Die Römer und die Insolvenzanfechtung
Die Zahl und der Umfang der Insolvenzanfechtungen haben in den letzten zehn Jahren sehr stark zugenommen, beobachtet Karsten Kiesel von Schultze & Braun. Im Interview erläutert er, warum sich die Anfechtung gerade im Laufe der letzten Jahre gewandelt hat und worauf Insolvenzverwalter und Geschäftspartner von Unternehmen, die in wirtschaftliche Schieflage geraten sind, achten sollten.
Herr Kiesel, vor 25 Jahren trat die Insolvenzordnung in Kraft. Dort ist auch das Insolvenzanfechtungsrecht geregelt. Die Grundlagen der Anfechtung gehen allerdings auf römisches Recht zurück. Inwiefern?
Kiesel: Historisch betrachtet hat das heutige Anfechtungsrecht seine Ursprünge in der „Paulianischen Anfechtungsklage“, lateinisch „actio pauliana“. Dadurch wurden Gläubiger vor Veräußerungen geschützt, die mit Kenntnis des Erwerbers in der Absicht erfolgten, die Gläubiger zu benachteiligen oder unentgeltlich waren. Dieser Grundsatz hat im deutschen Anfechtungsrecht bis heute Gültigkeit und findet sich, teilweise unter der Bezeichnung „actio pauliana“, auch in anderen Rechtsordnungen wieder, etwa die der Schweiz.
Diese historische Komponente dürfte den meisten Anfechtungsgegnern wahrscheinlich unbekannt sein. Trotzdem kommt vielen von ihnen – in Anbetracht der römischen Vergangenheit der Anfechtung – sicherlich der bekannte Ausspruch von Obelix `Die spinnen, die Römer!´ in den Sinn, wenn ein Verwalter von ihnen vereinnahmte Gelder zurückfordert.
Kiesel: Ja, bei Geschäftspartnern von Unternehmen, die in wirtschaftliche Schieflage geraten sind, sorgt die sogenannte Insolvenzanfechtung oftmals für Ärger und Frust. Das aktuelle Anfechtungsrecht geht über die historischen Grundlagen weit hinaus. Denn dieses Instrument des Insolvenzrechts ermöglicht es dem Insolvenzverwalter, bestimmte Vorgänge – etwa Zahlungen oder eine Übertragung von Vermögenswerten kurz vor dem Insolvenzantrag – rückgängig zu machen. Geld zurückzahlen, das man von seinem Auftraggeber teilweise vor Jahren für eine ordnungsgemäß erbrachte Lieferung oder Leistung erhalten hat, klingt dabei für viele verständlicherweise mehr nach einem schlechten Scherz als nach einer gerechtfertigten Forderung – gerade, weil die Betroffenen in der Regel ja nicht die anderen Gläubiger benachteiligen, sondern einfach nur die Bezahlung ihrer Leistung oder Lieferung wollten.
Warum ist das so?
Kiesel: Zunächst ist mit der Einführung der Insolvenzordnung 1999 das Anfechtungsrecht im Vergleich zur Konkursordnung erweitert und verschärft worden – auch, um die Zahl der Verfahrenseröffnungen zu erhöhen und eine geregelte Abwicklung im Insolvenzverfahren zu ermöglichen. Der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wird zeitlich vorverlagert. So können insbesondere Zahlungen und sonstige Maßnahmen, durch die die Gläubiger benachteiligt werden, in den letzten drei Monaten vor dem Insolvenzantrag von Insolvenzverwaltern vergleichsweise einfach zurückgefordert werden.
Und wenn Vermögensverschiebungen länger als drei Monate vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder dem Insolvenzantrag erfolgt sind?
Kiesel: Für frühere Zeiträume gilt weiterhin, dass ungerechtfertigte Vermögensverschiebungen, die Gläubiger benachteiligen, rückgängig gemacht werden können, wenn der Empfänger von der Benachteiligung wusste. Allerdings muss die Benachteiligung der Gläubiger nicht mehr das Ziel sein. Es ist also keine Benachteiligungsabsicht erforderlich und das Handeln muss auch nicht rechtlich missbilligt oder auch nur anstößig sein. Die Chancengleichheit der Gläubiger soll gewahrt sein, und eine Bevorzugung einzelner Gläubiger kann zur Anfechtbarkeit führen. Der Aspekt der Chancengleichheit umfasst beispielsweise Zahlungen, auch wenn diese längere Zeit vor dem Insolvenzantrag an einzelne Gläubiger geleistet wurden, um diesen bevorzugt zu behandeln, wobei andere leer auszugehen drohen. Ob eine solche Situation vorliegt und der Empfänger die erforderliche Kenntnis hat, wird aus der erkennbaren wirtschaftlichen Situation abgeleitet.
Welche grundsätzlichen Regeln gelten bei der Insolvenzanfechtung?
Kiesel: Grundsätzlich gilt: Der zeitliche Abstand einer Zahlung zum Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und dem Insolvenzantrag spielt eine wichtige Rolle. Hier muss man jedoch unterscheiden: Im Zeitraum der letzten drei Monate vor dem Insolvenzantrag sind die Anforderungen für eine Anfechtung durch den Insolvenzverwalter vergleichsweise gering und der betroffen Gläubiger muss unter Umständen nichts von den Problemen des Geschäftspartners wissen. Im davor liegenden Zeitraum von bis zu vier Jahren vor dem Antrag ist dagegen die Kenntnis der wirtschaftlichen Probleme erforderlich. Im geschäftlichen Verkehr wird es bereits riskant, wenn dem Gläubiger Umstände bekannt sind, die auf eine Zahlungsunfähigkeit des Geschäftspartners hindeuten. Das hat seit der Einführung der Insolvenzordnung 1999 zu einer steigenden Anzahl solcher Anfechtungen geführt.
Wie ist die Situation bei der Anfechtung heute?
Kiesel: Seit der gesetzlichen Reform der Anfechtung im Jahre 2017 und der Neujustierung der BGH-Rechtsprechung seit 2021 hat sich das Kräfteverhältnis zwischen Insolvenzverwalter und Anfechtungsgegner zugunsten der Anfechtungsgegner verschoben, und es gibt mehr Verteidigungsmöglichkeiten für den Gläubiger.
Worauf sollten Gläubiger achten?
Kiesel: Wenn man Anhaltspunkte für ein Zahlungsunfähigkeit des Geschäftspartners kennt und nicht die richtigen Maßnahmen trifft, hat man als Gläubiger gleichwohl nach wie vor ein erhebliches Risiko, erhaltene Zahlungen später wieder an den Insolvenzverwalter herausgeben zu müssen.
Sie haben regelmäßig mit Anfechtungssachverhalten zu tun. Wie hat sich die Insolvenzanfechtung in den letzten Jahren gewandelt?
Kiesel: Die Bedeutung der Anfechtung hat seit der Einführung der Insolvenzordnung durch eine anfechtungsfreundliche Rechtsprechung stark zugenommen. Insbesondere die Vorsatzanfechtung hat für die Betroffenen erhebliche wirtschaftliche Bedeutung, weil häufig hohe Summen geltend gemacht werden. Da regelmäßig neue Gerichtsentscheidungen ergehen, die gerade in den letzten Jahren zu zahlreichen Änderungen bei der Beurteilung „Kann eine Zahlung angefochten werden oder nicht?“ geführt haben, ist die Beurteilung der Situation oft nicht einfach. Dies hat zu einer Spezialisierung bei der Bearbeitung von Anfechtungssachverhalten geführt – und zwar bei den Rechtsanwälten und den Gerichten, die häufig Spezialkammern für die Insolvenzanfechtung eingerichtet haben.
Inwiefern?
Kiesel: Vor April 2017 war es für Insolvenzverwalter vergleichsweise einfach, auch lange zurückliegende Zahlungen an Gläubiger anzufechten und zurückzufordern. Dafür reichte es schon aus wenn schon Liquiditätsprobleme offensichtlich waren. Dies wurde häufig insbesondere von Verbänden kritisiert und hat zur Reform der Insolvenzanfechtung 2017 geführt, die für die Anfechtungsgegner einiges an Verbesserungen gebracht und ihre Position gestärkt hat. Während der COVID-19-Pandemie waren dann bestimmte Sachverhalte vorübergehend privilegiert. Mit gleich mehreren Entscheidungen seit Mai 2021 hat der BGH die Vorsatzanfechtung für Insolvenzverwalter komplexer und schwieriger gemacht. Den Anfechtungsgegnern hat er mit seinen Entscheidungen zusätzliche Werkzeuge an die Hand gegeben, um Ansprüche von Verwaltern abzuwehren. So spielen die besonderen Umstände des Einzelfalles inzwischen eine wichtige Rolle, und die Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit eines Geschäftspartners reicht grundsätzlich alleine nicht mehr aus, um eine Kenntnis der Beteiligten vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz zu belegen.
Welche Faktoren spielen nun eine stärkere Rolle?
Kiesel: Die Zukunftsperspektive des späteren Insolvenzschuldners im Hinblick auf die Liquiditätssituation bei den fraglichen Zahlungen und der Blick des Anfechtungsgegners darauf haben an Bedeutung gewonnen. Zudem werden nachträgliche Entwicklungen eher berücksichtigt, wenn zuvor eine erkennbare Zahlungsunfähigkeit eingetreten war – etwa, ob die Möglichkeit bestanden hat, dass die Zahlungsunfähigkeit in einem bestimmten Zeitraum wieder beseitigt werden kann. Insgesamt wird die Situation für den Anfechtungsgegner dadurch zwar besser, aber nicht einfacher.
Neben der großen finanziellen Bedeutung der Insolvenzanfechtung schwingt bei solchen Sachverhalten sicherlich immer auch die Frage ‚Was ist gerecht?‘ mit, oder?
Kiesel: Es gibt wohl kaum einen Aspekt in Insolvenzverfahren, über den so viel diskutiert wird, und bei dem sich die rechtlichen Rahmenbedingungen zuletzt so regelmäßig geändert haben, wie die Insolvenzanfechtung. Letztendlich findet aber durch die Anfechtung bestimmter Zahlungen und Vorgänge eine Umverteilung statt, von der die Gläubigergesamtheit grundsätzlich profitiert. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Regelungen der Insolvenzordnung und die BGH-Rechtsprechung grundsätzlich dazu beitragen, faire und angemessene Lösungen in Insolvenzverfahren zu finden. Fakt ist aber auch: Für den betroffenen Anfechtungsgegner können die finanziellen Konsequenzen einer Anfechtung im Einzelfall gleichwohl hart und unter Umständen sogar existenzbedrohend sein.
Auch die EU beschäftigt sich mit diesem Thema.
Kiesel: Ja. Die Insolvenzanfechtung ist auch einer der Punkte, die die Europäische Union im Zuge der Insolvency III-Richtlinie angehen will. Das Ziel sind einheitliche Standards bei der Anfechtung. Da die Regelungen in Deutschland im EU-Vergleich jedoch bereits sehr detailliert ausgestaltet sind, ist in diesem Bereich hierzulande nicht von größeren Änderungen auszugehen.
Der Interviewpartner
Rechtsanwalt Karsten Kiesel ist im Bereich Sanierungs- und Insolvenzberatung der bundesweit vertretenen Kanzlei Schultze & Braun tätig. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Gesellschafts- sowie im Insolvenzrecht. Er verfügt über langjährige Erfahrung bei der prozessualen und außerprozessualen Abwehr von krisen- und insolvenzspezifischen Haftungsansprüchen – insbesondere solche aus Insolvenzanfechtung – und berät Gläubiger, Kreditinstitute und Unternehmen in der Krise sowie deren Gesellschafter und Organe. Er ist seit mehreren Jahren als Referent im Bereich der Insolvenzanfechtung tätig.