Zahlungsunfähig oder (noch) nicht?

20. September 2022 Blog Insolvenzrecht Restrukturierung und Sanierung

Von der Antwort auf diese Frage hängt für Unternehmen, Insolvenzverwalter und Sanierungsberater viel ab. Dr. Dirk Herzig und Stefan Höge erläutern mit Blick auf die aktuelle Leitsatzentscheidung des BGH, wie die Zahlungsfähigkeit ermittelt wird und ordnen die Pros und Contras der Methoden ein.

 

Herr Dr. Herzig, Herr Höge, wann ist ein Unternehmen zahlungsunfähig?

Herzig: Wenn es 10 Prozent der Verbindlichkeiten nicht mehr bezahlen kann, die in Addition am heutigen Tage fällig sind und in den nächsten drei Wochen fällig werden. Ob das der Fall ist und – wenn ja – ab wann, lässt sich mit einer erweiterten Liquiditätsbilanz feststellen, bei der mehrere Faktoren eine Rolle spielen. 

Höge: Zu einem Stichtag werden die vorhandenen Geldmittel eines Unternehmens den zu diesem Stichtag fälligen Verbindlichkeiten gegenübergestellt. Decken die Geldmittel nur 90 Prozent oder weniger der Verbindlichkeiten, muss in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob diese Unterdeckung innerhalb der folgenden drei Wochen beseitigt werden kann. Dazu werden die Geldmittel, die dem Unternehmen aller Voraussicht nach in diesen drei Wochen zufließen und die Verbindlichkeiten, die in diesem Zeitraum fällig werden, jeweils hinzugerechnet. Bleibt es bei der Unterdeckung von zehn Prozent oder mehr, ist das Unternehmen zahlungsunfähig.

 

Neben diesen etablierten Berechnungsansatz hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nun einen weiteren gestellt.

Höge: Es ist nunmehr auch möglich, an drei Stichtagen innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen jeweils einen vereinfachten Liquiditätsstatus zu erstellen. In diesem werden lediglich die zum jeweiligen Stichtag vorhandenen Geldmittel den zum Stichtag fälligen Verbindlichkeiten gegenüberstellt. Wenn an diesen drei Stichtagen jeweils eine Liquiditätslücke von zehn Prozent oder mehr vorliegt, ist das Unternehmen rückwirkend ab dem ersten Stichtag zahlungsunfähig.

Herzig: Diese neue Berechnungsmethode stellt de facto eine Erleichterung dar. Wichtig ist jedoch, dass sie für die handelnden Personen eine unterschiedliche Bedeutung und Auswirkungen hat. Für die Verantwortlichen in Unternehmen ist der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsfähigkeit beispielsweise dahingehend relevant, da sie unter Umständen für Zahlungen nach diesem Zeitpunkt haften und eventuell sogar eine strafbare Insolvenzverschleppung vorliegt.

 

Worauf sollten Geschäftsführer und Vorstände achten?

Höge: Sie sollten die neue Berechnungsmethode mit Vorsicht genießen. Diese führt tendenziell zu verkürzten Berechnungen, die der Sorgfaltspflicht nicht genügen und bei laufender Geschäftstätigkeit die in die Zukunft gerichteten Finanzpläne als Instrumente des in der Krise gebotenen verschärften Controllings außer Acht lassen. Bei einer ordnungsgemäßen Buchführung sollten sie daher weiterhin die erweiterte Liquiditätsbilanz einsetzen, um bei der Antwort auf die Frage „Zahlungsunfähig oder nicht?“ auf der sicheren Seite zu sein. Die neue Berechnungsmethode liefert demgegenüber lediglich drei aneinandergereihte Stichtagsberechnungen und kann saisonale Schwankungen sowie Zahlungsstockungen nur bedingt abbilden.

 

Wie sieht es für Insolvenzverwalter aus?

Herzig: Insolvenzverwalter haben die Aufgabe, Anfechtungs- oder Haftungsansprüche durchzusetzen. Dafür müssen sie im Nachhinein – also bei einer ex post-Betrachtung – den Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit ermitteln. Die neue Berechnungsmethode reduziert für Insolvenzverwalter die Darlegungslast insbesondere bei Unternehmen, bei denen die Buchhaltungsdaten, insbesondere die monatlichen Summen- und Saldenlisten, nicht komplett vorliegen. Zudem trägt die neue Berechnungsmethode dem seitens der Insolvenzordnung geforderten Prinzip des Gläubigerschutzgedankens Rechnung.

 

Und für Sanierungsberater?

Herzig: Für Sanierungsberater ist die Fragestellung „Ist die Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten?“ unter anderem bei einer vorinsolvenzlichen StaRUG-Restrukturierung und bei einem Schutzschirmverfahren besonders entscheidend. Diese Verfahren können nur beantragt werden, wenn die Zahlungsunfähigkeit nur droht, aber noch nicht eingetreten ist.

Höge: Mit der neuen Berechnungsmethode lässt sich die Abgrenzung zwischen drohender und eingetretener Zahlungsunfähigkeit jedoch nicht so trennscharf ermitteln, wie das mit der erweiterten Liquiditätsbilanz möglich ist. Insbesondere dort sind die Finanzpläne auch zwecks Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten für Finanzplandefizite beziehungsweise Finanzplanüberhänge als wesentliches Instrument anzusehen. Es ist daher auch hier ratsam, auf die etablierte erweiterte Methode zu setzen, um auf der sicheren Seite zu sein und die dynamische Liquiditätsentwicklung von Unternehmen realitätsnah abbilden zu können.

Die Interviewpartner

Dr. Dirk Herzig

ist Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht und Partner bei Schultze & Braun.

Stefan Höge

ist Diplom-Kaufmann (FH) und Kreditanalyst, seit 1994 mit der Erstellung von Zahlungsunfähigkeitsgutachten befasst und seit 2004 bei Schultze & Braun.