Krise in der Pflege: Wenn die Helfenden Hilfe brauchen

11. April 2025 Blog Insolvenzrecht Restrukturierung und Sanierung Wirtschaftsrecht

Im Interview erläutern Dr. Christoph von Wilcken und Tobias Hartwig von Schultze & Braun, wie Pflegeunternehmen mit der aktuellen Krise und Herausforderungen umgehen können und welche Möglichkeiten sie für die Neuaufstellung haben. Sie sind Mitglieder unseres Spezialisten-Teams für die Sanierung von Unternehmen aus der Pflegewirtschaft.

 

Herr Hartwig, Herr von Wilcken, eine Erhebung des Arbeitgeberverbands Pflege zeigt, dass in Deutschland immer mehr Pflegeheime und -dienste in finanzielle Not geraten. In den Jahren 2023 und 2024 mussten demnach mehr als 1200 Pflege-Einrichtungen Insolvenz anmelden oder schließen. Wie beurteilen sie die aktuelle Lage des Pflegesektors?

Hartwig: Der Pflegemarkt in Deutschland steht bereits seit Jahren vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. In der jüngeren Vergangenheit wurde die angespannte finanzielle Situation vieler Unternehmen durch externe Faktoren wie etwa die wirtschaftlichen Nachwehen der Corona-Pandemie und oder die enormen Preissteigerungen im Zuge des Ukraine-Kriegs verstärkt. Bei vielen Pflegeunternehmen steht der anhaltende Anstieg der Kosten für Energie, Material, Mieten und Personal Einnahmen gegenüber, die nur verzögert an die aktuelle Lage angepasst werden können. Die von der Politik und den Pflegekassen vorgegebenen Rahmenbedingungen ermöglichen die Wirtschaftlichkeit beispielsweise eines Seniorenheims erst ab einer Auslastung von 95 Prozent aufwärts. Somit bleibt selbst bei einer Vollbelegung lediglich ein finanzieller Puffer von fünf Prozent. Dem Unternehmer verbleibt eine Rendite von 1,5 Prozent – aber nur, wenn alles perfekt läuft.

von Wilcken: Zudem ist es für Pflegeeinrichtungen trotz zahlreicher Initiativen und einiger Verbesserungen wegen des Fachkräftemangels nach wie vor eine große Herausforderung, das notwendige Verhältnis von Pflegenden zu Bewohnenden sicherzustellen. Die Qualifikation und Personalstärke bestimmen allerdings maßgeblich die mögliche Belegung einer Pflegeeinrichtung. 

 

Welche Möglichkeiten haben Pflegeeinrichtungen hinsichtlich der personellen Problematik und welche besonderen Herausforderungen gehen damit einher?

Hartwig: Um für die Bewohnenden als auch die Mitarbeitenden Sorge zu tragen, greifen Unternehmen nicht selten auf den Einsatz von Leiharbeitenden zurück. So kann trotz Fachkräftemangels in einer Einrichtung zeitweise eine Auslastung jenseits der 95 Prozent erreicht werden. Doch für dieses Mittel müssen finanzielle Reserven vorhanden sein. Denn für Leiharbeitende oder – korrekt formuliert – Personal, welches im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung in einem Pflegebetrieb arbeitet, müssen Betreiber in der Regel deutlich mehr bezahlen. Zudem ist die innerbetriebliche Integration der neuen und eben nicht dauernd präsenten Mitarbeitenden oftmals herausfordernd und nur begrenzt umsetzbar. 

von Wicken: Langfristig ist Leiharbeit keine Lösung – was auch immer mehr Pflegeeinrichtungen erkannt haben und entsprechend umsteuern. Die Folge ist, dass es daher aber nicht immer möglich ist, eine ausreichende beziehungsweise wirtschaftliche Belegung von Senioren- oder Pflegezentren zu erreichen. Hinzu kommt die Besonderheit, dass die Verhandlungen mit den Pflegekassen nur einmal im Jahr stattfinden und selbst bei unvorhergesehenen größeren Preissteigerungen wie etwa beim Punkt Energie im Zuge des Ukraine-Kriegs im selben Jahr kein kurzfristiger Ausgleich auf der Einnahmenseite durch Nachverhandlungen möglich ist. Deshalb können die gestiegenen Kosten nicht unmittelbar refinanziert werden, was zu Verlusten führt. Über einen gewissen Zeitraum können solche Verluste abgefedert werden – wenn das Pflegeunternehmen zum Beispiel finanzielle Puffer für solche harten Zeiten aufbauen konnte. Doch seit der Corona-Pandemie folgt eine wirtschaftliche Krise auf die nächste und dies kann auch vorsichtig planende Unternehmen aus der Pflegebranche an ihre finanziellen Grenzen bringen.

 

Sie haben bereits mehrere Einrichtungen im Pflegesektor bei ihrer Neuaufstellung begleitet. Wie kann eine solche aussehen?

Hartwig: Pflegeunternehmen können sich mithilfe der Werkzeuge des deutschen Restrukturierungsrechts durchaus wieder nachhaltig und zukunftsfähig aufstellen. Ein gut vorbereitetes Insolvenzverfahren – ganz gleich, ob als Regelverfahren, in Eigenverwaltung oder in Form eines Schutzschirmverfahrens kann eine finanzielle Neuaufstellung, aber auch eine strategische Neuausrichtung ermöglichen. Im Falle einer uneingeschränkten Fortführung des Betriebs – etwa im Rahmen einer Eigenverwaltung – wird die Insolvenz in der Außenwirkung weniger negativ, sondern vielmehr als ernstgemeinte Sanierungsinitiative aufgefasst.

von Wilcken: Insolvenz- und Eigenverwaltungsverfahren eignen sich grundsätzlich zur finanziellen Stabilisierung von Pflegebetrieben. So wird die Gesellschaft bis zu drei Monate lang von Löhnen und Gehältern entlastet, die durch das Insolvenzgeld aufgefangen werden. Außerdem können Dauerschuldverhältnisse angepasst werden. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise Mietverträge für Immobilien und gegebenenfalls auch nachteilige Lieferantenverträge neu verhandeln, die sonst einen wirtschaftlichen Neustart verhindern würden. Die so neu gewonnene Liquidität kann dann für die Suche nach Investoren oder für die Sanierung des Unternehmens genutzt werden. Dabei ist immer das Ziel, die Gesellschaft wieder auf eine langfristig stabile Basis zu stellen.

Die Interviewpartner:

Tobias Hartwig, MBA

leitet die Standorte Hannover und Braunschweig von Schultze & Braun. Der Diplom-Wirtschaftsjurist (FH) wird regelmäßig von Gerichten in Niedersachsen, Brandenburg und Berlin als Insolvenzverwalter bestellt und hat mit seinem Team bereits zahlreiche Unternehmen unterschiedlicher Größe erfolgreich bei ihren Sanierungsverfahren begleitet. Außerdem ist Tobias Hartwig Lehrbeauftragter für Insolvenzrecht an der HR Nord Hochschule für Rechtspflege Hildesheim.

Dr. Christoph von Wilcken

ist Rechtsanwalt bei Schultze & Braun und am Berliner Standort der bundesweit vertretenen Kanzlei tätig. Neben dem Wirtschaftsrecht in der Restrukturierung gehören zu seinen Spezialgebieten die Beratung und die operative Begleitung von Eigenverwaltungen sowie die Beratung bei und die Umsetzung von Insolvenzplänen.