Insolvenzgeld: Alles andere als Standard

25. April 2025 Blog Insolvenzrecht Restrukturierung und Sanierung Wirtschaftsrecht

 

Das Insolvenzgeld ist im Rahmen einer Sanierung ein essenzieller Faktor und gehört zusammen mit der sogenannten Vorfinanzierung zu den Standardinstrumenten in Insolvenzverfahren. Antonie Jäger, Leiterin des Teams Insolvenzgeldvorfinanzierungen der NATIONAL-BANK und Alexander Eggen, Leiter des Frankfurter Standorts von Schultze & Braun erläutern, warum trotzdem jeder Fall individuell betrachtet werden muss und welche Besonderheiten und Entwicklungen es beim Insolvenzgeld gibt. 

Frau Jäger, Herr Eggen, Sie haben bei Ihrer Arbeit regelmäßig mit den Bestimmungen zum Insolvenzgeld und deren praktischer Auslegung und Umsetzung zu tun. Was ist das Besondere daran?

Eggen: Das Insolvenzgeld stellt für die Stabilisierung des Geschäftsbetriebs und die Neuaufstellung eines Unternehmens einen großen Vorteil dar. Das Unternehmen kann bis zu drei Monate ohne Personalkosten wirtschaften und sich ein finanzielles Sanierungspolster erarbeiten. Dass dies möglich ist, ist ein nicht zu unterschätzender Erfolgsfaktor. Denn im eröffneten Verfahren muss das Unternehmen wieder unter Vollkosten operieren und die Löhne und Gehälter müssen wieder aus dem laufenden Geschäftsbetrieb erwirtschaftet werden. Wenn dieser Schritt erfolgreich geschafft wurde, ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg aus dem Verfahren erreicht. Man kann also durchaus sagen: Die Sanierungschancen hängen eng mit dem Insolvenzgeldzeitraum zusammen. Hinzu kommt: Wenn man den Mitarbeitenden klar machen kann, dass ihre Löhne und Gehälter für die nächsten drei Monate durch das Insolvenzgeld gesichert sind, ist das zu Beginn eines Verfahrens eine wichtige und positive Botschaft. Denn die Antwort auf die Frage „Bekomme ich jetzt noch mein Gehalt?“ gehört zu den wichtigsten arbeitsrechtlichen Aspekten in einer Sanierung.

Jäger: Der Anspruch der Mitarbeitenden auf das Insolvenzgeld entsteht erst mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens – in der Regel drei Monate nach dem Insolvenzantrag. Mitarbeitende erhalten das Insolvenzgeld rückwirkend für diesen Zeitraum. Hier setzt das Instrument der Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes an, mit dem im vorläufigen Verfahren monatliche Auszahlungen an die Mitarbeitenden möglich sind. Denn mit dem Blick auf das Unternehmen gilt es, die Abwanderung von Mitarbeitenden, insbesondere der Leistungsträger, zu verhindern. Dieses Austrittsrisiko potenziert sich in Zeiten des Fachkräftemangels. Mit dem Blick auf die Belegschaft ist es wichtig, das Motivationsrisiko zu begrenzen, insbesondere durch eine ununterbrochene Vergütung schon in der Zeit des vorläufigen Verfahrens.  Es zeigt sich, dass die Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes von großer Bedeutung ist.

Wie läuft eine Vorfinanzierung ab?

Jäger: Als vorfinanzierende Bank gewähren wir dem insolventen Unternehmen die Möglichkeit, die Löhne und Gehälter in Höhe des zu erwartenden Insolvenzgelds regulär weiter zu bezahlen. Die Mitarbeitenden erhalten ihre Vergütung also zu den arbeitsvertraglich vereinbarten Zeitpunkten.  Im Gegenzug übertragen sie ihren Gehalts- beziehungsweise Insolvenzgeldanspruch als Sicherheit an uns.

Das klingt nach einem vergleichsweise standardisierten Produkt.

Jäger: Das trifft beim Insolvenzgeld und seiner Vorfinanzierung im Grundsatz zu. Allerdings unterscheiden sich die Insolvenz- und Sanierungsverfahren in der Praxis teilweise deutlich, sodass jedes einzelne individuell geplant und umgesetzt werden muss. Wir reden hier ja zum Beispiel von Unternehmen mit mehreren Hundert oder Tausend Arbeitnehmern oder von Konzernen oder Unternehmensgruppen, bei denen gleich mehrere Gesellschaften einen Insolvenzantrag gestellt haben. Nach „Schema F“ lässt sich aber auch eine Insolvenzgeldvorfinanzierung nicht umsetzen. Dafür bedarf es eines umfänglichen insolvenzrechtlichen und bankbetrieblichen Spezialwissens sowie langjähriger Erfahrung in den markt- und marktfolgenden Einheiten. Schließlich müssen bei der Bereitstellung einer Vorfinanzierung neben dem Insolvenzverwalter zahlreiche weitere Beteiligte mit durchaus unterschiedlichen Interessen eingebunden werden – und das in einem sehr kleinen Zeitfenster. Dafür benötigt man hochprofessionelle Spezialisten, über die wir als in diesem Segment marktführendes Kreditinstitut verfügen. 

Welche Lohn- und Gehaltsanteile sind insolvenzgeldfähig?

Eggen: Das Nettogehalt sowie Überstunden aus dem Insolvenzgeldzeitraum, der Nettoanteil der Zuschläge gemäß Tarif- oder Arbeitsvertrag, Fahrgeld, vermögenswirksame Leistungen des Arbeitsgebers, unter bestimmten Voraussetzungen auch Sonderzahlungen, wie zum Beispiel Weihnachtsgeld, 13. Monatsgehalt oder Provisionen.

Jäger: Das Insolvenzgeld wird aber nicht grenzenlos gezahlt. Es ist durch die Beitragsbemessungsgrenze für die Renten- und Arbeitslosenversicherung gedeckelt. Der Plafond liegt seit 1. Januar 2025 bundesweit einheitlich bei 8.050 Euro brutto. 

Gibt es Fälle, in denen eine Vorfinanzierung nicht möglich ist?

Eggen: Wenn der Geschäftsbetrieb schon länger eingestellt ist und die Mitarbeitenden bereits einige Zeit auf ihr Geld warten, wird es keine Vorfinanzierung geben. In einem solchen Fall sind die Sanierungschancen allerdings auch sehr gering, was einmal mehr zeigt, wie wichtig es ist, Krisenanzeichen frühzeitig zu erkennen und einen Insolvenzantrag nicht erst um zehn nach zwölf zu stellen. Es gibt aber auch Fälle, in denen eine erste Sanierung nicht so nachhaltig war, dass die Unternehmen danach den erneuten Gang zum Insolvenzgericht vermeiden konnten. Die Folge ist eine Zweitinsolvenz. Wenn rechtlich gesehen in einem solchen Fall das erste Insolvenzverfahren noch nicht abgeschlossen ist, kann das zur mitunter unüberwindlichen Hürde beim Zweit-Insolvenzgeld werden – auch wenn eine solche Entscheidung bei den betroffenen Mitarbeitenden nachvollziehbarer Weise auf wenig Gegenliebe stößt.

Wie sieht denn der Insolvenzgeld-Idealfall aus?

Jäger: Der Idealfall ist und bleibt der geordnete Ablauf des vorläufigen Verfahrens, die Eröffnung zum vorgesehenen Zeitpunkt und die vollumfängliche Auszahlung der belegten Insolvenzgeldansprüche durch die Bundesagentur für Arbeit. Soweit schon vor der Eröffnung des Verfahrens im Rahmen einer Sanierung die Übernahme des insolventen Unternehmens durch einen Investor erreicht werden kann, steht einer Rückzahlung der Ansprüche aus dem Unternehmen heraus natürlich nichts entgegen. Letztlich wird in solchen Fällen die Insolvenzgeldkasse der Bundesagentur finanziell entlastet.

Sie sprechen die Insolvenzgeldkasse an. Mehr Insolvenzen bedeuten auch mehr Insolvenzgeld. Spiegelt sich der Anstieg der Insolvenzzahlen auch im ausgezahlten Insolvenzgeld wider?

Jäger: Im Jahr 2024 ist das ausgezahlte und vorfinanzierte Insolvenzgeld nach Angabe der Bundesagentur für Arbeit im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 20 Prozent gestiegen. Dies hat zur Folge, dass die Beiträge der Unternehmen im Rahmen der Insolvenzgeldumlage aller Voraussicht nach steigen werden. Die Bundesagentur für Arbeit verwaltet das Insolvenzgeld, die Unternehmen finanzieren es. Die Umlage ist gesetzlich auf 0,15 Prozent der rentenversicherungspflichtigen Löhne und Gehälter eines Unternehmens festgeschrieben. 2023 und 2024 betrug sie per Verordnung des Bundesarbeitsministeriums ausnahmsweise nur 0,06 Prozent. 

Eggen: In den Jahren der Corona-Pandemie war die Zahl der Insolvenzen wegen Sonderregeln und Staatshilfen für Unternehmen außergewöhnlich niedrig, sodass die jährlichen Ausgaben für Insolvenzgeld durch hohe Rücklagen mehr als abgedeckt waren. Das Bundesministerium für Arbeit hatte die Insolvenzgeldumlage daher durch eine Verordnung reduziert. Doch die stark gestiegene Zahl an Insolvenzen und die erhöhten Ausgaben für Insolvenzgeld haben die Situation verändert.

Die Interviewpartner

Antonie Jäger

leitet seit 2008 das Spezialistenteam „IGV“ der NATIONAL-BANK, bei der sie bereits seit 2003 beschäftigt ist. Dabei verantwortet sie marktseitig die Akquisition, Eröffnung und Bearbeitung von Insolvenzgeldvorfinanzierungen einschließlich der Führung von Treuhandkonten.

Alexander Eggen

ist Rechtsanwalt bei Schultze & Braun. Er leitet den Frankfurter Standort der bundesweit vertretenen Kanzlei und wird in der Rhein-Main-Region an unterschiedlichen Gerichten als Insolvenzverwalter bestellt. Eines seiner Spezialgebiete ist die Unternehmenssanierung.