Insolvenz im Spannungsfeld

01. März 2024 Blog Insolvenzrecht Restrukturierung und Sanierung Wirtschaftsrecht

Mit der Insolvenzordnung wurde der Sanierungsgedanke vor 25 Jahren zum zentralen Element. Vor zwölf Jahren verhalf das ESUG der Eigenverwaltung und dem Schutzschirmverfahren zum Durchbruch. Ein Grund mehr, den Blick auf die Nachhaltigkeit von Unternehmenssanierungen und die Diskussion um das Insolvenz-Kalkül zu richten.

Herr Hartwig, Herr Böhner, in einzelnen Branchen ist die Insolvenz – und vor allem das Schutzschirmverfahren – in den Verdacht geraten, als Wettbewerbsvorteil missbraucht zu werden. Wie sehen Sie das als Sanierungspraktiker?

Hartwig: Die Insolvenzordnung bietet Unternehmen im Fall einer finanziellen Schieflage die Chance, sich mit Hilfe der Möglichkeiten des Insolvenzrechts zu sanieren und sich von Verbindlichkeiten und Altlasten zu befreien. Ein Insolvenzverfahren setzt allerdings voraus, dass ein sogenannter Insolvenzgrund vorliegt, bei dem die Insolvenzantragspflicht greift – das Unternehmen also entweder droht, zahlungsunfähig zu werden, die Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten ist oder das Unternehmen überschuldet ist. Das heißt im Umkehrschluss aber: Ein prosperierendes Unternehmen kann niemals sagen: Ich gehe in ein Insolvenzverfahren – etwa, weil das jetzt alle in der Branche machen und ich ansonsten ins Hintertreffen gerate. Oder anders formuliert: Wenn die ganze Branche in die Insolvenz geht, kann ich das ja ohne Reputationsverlust mit meinem Unternehmen doch auch tun. Fakt ist: Eine Sanierung mit Hilfe des Insolvenzrechts ist und bleibt nur dann sinnvoll und möglich, wenn eine wirtschaftliche Notwendigkeit besteht und ein Antragsgrund gegeben ist.

Böhner: Zudem ist die Sanierung eines Unternehmens – wenn sie denn rechtlich möglich ist – auch mit den Möglichkeiten des Insolvenzrechts alles andere als ein Selbstläufer und auch kein Allheilmittel. Denn wenn die Strategie für den Neustart fehlt, nützt auch die Befreiung von Verbindlichkeiten und Altlasten nichts. Man steht dann wirtschaftlich gesehen sehr wahrscheinlich bald wieder mit dem Rücken zur Wand. Die vermeintliche Sanierung war in einem solchen Fall nicht so nachhaltig, dass das Unternehmen danach den erneuten Gang zum Insolvenzgericht vermeiden kann.

 

Aber welche Punkte spielen bei der Nachhaltigkeit von Unternehmenssanierungen eine Rolle und wie ist es um sie generell bestellt?

Böhner: Das haben wir uns als Kanzlei im Rahmen einer großangelegten Untersuchung im Frühjahr 2022 zum zehnten Jahrestag des Inkrafttretens der ESUG-Insolvenzrechtsreform angeschaut. In der Untersuchung, für die wir den Zeitraum von März 2012 bis September 2021 unter die Lupe genommen haben, stehen sogenannte Zweitinsolvenzen im Fokus – also Unternehmen, die nach einer ersten Sanierung erneut den Gang zum Insolvenzgericht antreten mussten. Die Erkenntnisse, die Datenbasis und das Design unserer Untersuchung haben wir auf www.nachhaltige-unternehmenssanierung.de dargestellt. Die Kernerkenntnis unserer Untersuchung ist, dass sowohl das Regelinsolvenzverfahren als auch die Eigenverwaltung mit und ohne Schutzschirmverfahren für nachhaltige Unternehmenssanierungen stehen. Und auch wenn die Auswertung von Daten für den Zeitraum seit dem Herbst 2021 erst noch erfolgen muss, gibt es trotz prominenter Zweitinsolvenzen seitdem und der aktuellen Normalisierung der Insolvenzzahlen bislang keine Anzeichen dafür, dass sich an der Kernerkenntnis unserer Untersuchung grundsätzlich etwas geändert hat.

Hartwig: Die Tatsache, dass sich die Nachhaltigkeits-Quoten von Eigen- und Fremdverwaltungen definitiv sehen lassen können, ist für Sanierer und Restrukturierer sowie für Unternehmen eine wichtige Erkenntnis: Die verschiedenen Instrumente des Insolvenzrechts bieten vielfältige Möglichkeiten, Krisensituationen zu meistern und im Zuge einer Sanierung die Ursachen anzugehen, die zur Insolvenz geführt haben. Die passende Sanierungsform für jedes Unternehmen sollte gleichwohl immer individuell geprüft werden. Unsere Untersuchung zeigt zudem, dass es sich relativ schnell zeigt, ob ein Unternehmen nachhaltig saniert wurde und durch das Insolvenz-, Eigenverwaltungs- oder Schutzschirmverfahren die Krisenursachen beseitigt wurden. Denn der überwiegende Anteil der identifizierten Zweitinsolvenzen ist innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Erstinsolvenz erfolgt. Im Umkehrschluss bedeutet das: Sind nach einer Sanierung mehr als fünf Jahre vergangen, sind bei einem sanierten Unternehmen in der Regel die Ursachen überwunden, die zur Insolvenz geführt haben.

 

Diese Erkenntnis dürfte auch für Banken und andere Unternehmensfinanzierer relevant sein.

Hartwig: Für Banken ist diese Erkenntnis der Untersuchung für die Bewertung ihres Ausfallrisikos von besonderer Bedeutung. Sie müssen für sich ja bei einer Sanierung oft eine Antwort auf die Frage „Können wir die Sanierung des Unternehmens unterstützen?“ finden. Natürlich gilt dabei das gleiche wie bei der Wahl des Sanierungsinstruments: Auch das Risiko sollte immer individuell geprüft werden. Gleichwohl liefert unsere Untersuchung dafür gute Anhaltspunkte, und die hohen Nachhaltigkeits-Quoten der Verfahrensarten sprechen grundsätzlich für eine positive Finanzierungsentscheidung. Bei der Bewertung des Ausfallrisikos von Banken spielt auch der Zeitraum der ersten fünf Jahre nach der ersten Insolvenz eine wichtige Rolle, der bei der Nachhaltigkeit einer Sanierung wie erwähnt von entscheidender Bedeutung ist. Banken sollten daher die Geschäfts- und Finanzplanung eines sanierten Unternehmens auch vor dem Hintergrund der Fünf-Jahres-Erkenntnis der Untersuchung betrachten.

Böhner: Die fünf Jahre sind aber auch in einem weiteren Zusammenhang für Banken und Unternehmen relevant. Unsere Untersuchung zeigt, dass Unternehmen, die innerhalb von fünf Jahren nach einer Sanierung in der Erstinsolvenz erneut einen Insolvenzantrag stellen müssen, fast 1,5-mal häufiger abgewickelt als saniert werden. Das Verhältnis von sogenannten Zweitabwicklungen – also einer Abwicklung in der zweiten Insolvenz – zu Zweitsanierungen belegt, wie wichtig es für Banken ist, bei der Kreditgewährung auf eine ausreichende Besicherung zu achten. Für Unternehmen unterstreicht diese Erkenntnis wiederum, wie wichtig es ist, in einer Sanierung die Ursachen anzugehen, die zur Insolvenz geführt haben.

 

Lassen sich daraus auch Empfehlungen für eine möglichst nachhaltige Unternehmenssanierung ableiten?

Hartwig: Die Fortführung des Unternehmens und der Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze stehen zurecht im Fokus jeder Sanierung. Wenn jedoch lediglich die Passivseite der Bilanz reduziert und dann operativ weiter so wie bisher vorgegangen wird, wird der Sanierungserfolg sehr wahrscheinlich nur von kurzer Dauer sein. Fakt ist: Um eine nachhaltig erfolgreiche Unternehmenssanierung zu erreichen, darf man sich nicht davor scheuen, mitunter auch tiefgreifende Einschnitte vorzunehmen. Denn: Von einer nachhaltigen Unternehmenssanierung profitieren am Ende alle.

Böhner: Grundsätzlich – und damit sind wir wieder beim Sanierungsgedanken der Insolvenzordnung – ist es eine positive Entwicklung, dass Unternehmen die Sanierung mit Hilfe eines Regelinsolvenz- oder Eigenverwaltungsverfahrens mit und ohne Schutzschirmverfahren inzwischen vermehrt als zweite Chance sehen und ergreifen. Diese zweite Chance sollte jedoch von den Unternehmen gerade angesichts der Zweitabwicklungs-Erkenntnis unserer Untersuchung idealerweise beim ersten Mal genutzt werden. Im Zusammenhang mit dem Aspekt der zweiten Chance, die beim ersten Mal genutzt werden sollte, zeigt sich auch, wie bedeutend es ist, dass Unternehmen eine Sanierung besser direkt angeht, wenn sich eine Krise abzeichnet, als abzuwarten, weiterzumachen wie bisher und auf Besserung zu hoffen. Denn so hart es klingt: Zu spät kann in gerade in volatilen Zeiten wie diesen das „totale Aus“ bedeuten! Die Devise lautet in jeden Fall: Im Krisenfall schnell handeln und keine Zeit verlieren!

 

Sie haben sich in der Untersuchung den Zeitraum vom Inkrafttreten des ESUG im März 2012 bis zum Herbst 2021 angeschaut. Welche Rückschlüsse lassen sich auf die Insolvenzrechtsreform und ihren Erfolg ziehen?

Hartwig: Unsere Untersuchung belegt, dass sich die ESUG-Reform in der Praxis bewährt hat. Diesen Beleg liefert der Blick auf die „Zweitinsolvenzen-Welle“, die sich 2017 bis 2019 aufgebaut hat, während die Zahl der Insolvenzen generell zurückging. 76 der insgesamt 114 zwischen März 2012 und September 2021 identifizierten Zweitinsolvenzen gibt es in diesen drei Jahren. Die Untersuchung zeigt, dass bei diesen 76 Zweitinsolvenzen die Mehrzahl der Erstinsolvenzen zwischen zwei und fünf Jahren zurückliegt – also auch in den Jahren 2012 bis 2014, den „Anfangsjahren“ des ESUG. In diesem Zeitraum wurden die neue Eigenverwaltung und das Schutzschirmverfahren sicherlich auch ausprobiert, um Erfahrungen zu sammeln. Allerdings belegen Auswertungen der einzelnen Jahre 2017 bis 2019, dass kein direkter Bezug der hohen Anzahl an Zweitinsolvenzen zu den Anfangsjahren des ESUG besteht und diese Phase des Ausprobierens daher keinen negativen Effekt auf die Nachhaltigkeit der Sanierungen in Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren gehabt hat.

Böhner: Es war auch die Intention des Gesetzgebers, dass sich Schuldnerunternehmen, aber auch die Gläubiger durch die Änderungen und Neuerungen des ESUG bereitwilliger und durchaus auch früher auf eine Sanierung einlassen. Diese Entwicklung erhöht, angesichts des so auch früher anlaufenden Austauschs mit Beratern und den wesentlichen Stakeholdern, die Chance für eine erfolgreiche Sanierung. Hinzu kommt, dass Eigenverwaltungen vor allem im Schutzschirmverfahren oftmals mit einem Insolvenzplan abgeschlossen werden, bei dem die Gesellschaft erhalten und Gesellschaftsanteile potentiell auch werthaltig bleiben. Dass sie von einer solchen Sanierung ebenfalls profitieren, ist wiederum grundsätzlich ein Anreiz für die Gesellschafter, dieses Verfahren anzugehen und zu unterstützen. Zusammengefasst lässt sich sagen: Das ESUG und sein Ziel, Sanierungen zu einem früheren Zeitpunkt anzugehen und planbarer zu machen, waren und sind fortschrittlich.

 

Gleichwohl ist die Skepsis gegenüber der Sanierung in Eigenverwaltung oder einem Schutzschirmverfahren immer noch hoch – Stichwort „Bock zum Gärtner machen“. Wie soll die Geschäftsführung, die den Karren in den Graben gesetzt hat, ihn wieder zurück auf die Straße bekommen?

Böhner: Hier müssen die verantwortlich handelnden Personen in Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren, also Geschäftsführung und Sanierungsberater, immer noch viel Überzeugungsarbeit leisten – bei Gläubigern, aber mitunter auch bei Gerichten, wenn diese zum Beispiel nicht regelmäßig mit ESUG-Verfahren zu tun haben.

Hartwig: Die Bedeutung einer solchen Überzeugungsarbeit ist aber auch mit dem Blick auf das aufgeworfene Insolvenz-Kalkül nicht zu unterschätzen – gerade, da hier das Schutzschirmverfahren in der Kritik steht, missbraucht zu werden, um eine Sanierung eines an sich gesunden Unternehmens auf Kosten der Gläubiger und der Steuerzahler als Wettbewerbsvorteil zu erzwingen.

Die Interviewpartner

Tobias Hartwig, MBA

ist Diplom-Wirtschaftsjurist (FH) und leitet bei Schultze & Braun die Standorte Hannover und Braunschweig. Er wird regelmäßig von Gerichten in Niedersachsen, Brandenburg und Berlin als Insolvenzverwalter bestellt und hat mit seinem Team bereits zahlreiche Unternehmen unterschiedlicher Größe erfolgreich bei ihren Sanierungsverfahren begleitet.

Michael Böhner

ist als Rechtsanwalt bei Schultze & Braun in den Bereichen Restrukturierung und Rechtsberatung tätig. Er ist spezialisiert auf Restrukturierungsverfahren in Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren.