Konkretisierung der „Neujustierung“ bei der Vorsatzanfechtung

04. April 2022 Blog Insolvenzrecht

Bei der Vorsatzanfechtung ändert der Bundesgerichtshof aktuell seine bisherige Rechtsprechung. Eine neue Entscheidung erschwert den Insolvenzverwaltern die Anfechtung insbesondere gegenüber Lieferanten und Dienstleistern, die keine detaillierten Einblicke in die wirtschaftliche Situation des späteren Insolvenzschuldners haben.

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Karsten Kiesel

Rechtsanwalt

BGH: „Neujustierung“ der Vorsatzanfechtung – Fortdauervermutung, schleppendes Zahlungsverhalten und Wegfall von die Zahlungsunfähigkeit begründenden Forderungen 

InsO §§ 17, 18 II, 133 I
BGH, Urteil vom 10.02.2022 – IX ZR 148/19 (OLG Köln)

I. Leitsatz des Verfassers
Wird die Verbindlichkeit, welche die Annahme einer Zahlungseinstellung des Schuldners trägt, erfüllt oder gestundet und will der Verwalter die Vermutung der Fortdauer der Zahlungseinstellung für sich in Anspruch nehmen, kann er unter dem Gesichtspunkt der sekundären Darlegungslast gehalten sein, zum Zahlungsverhalten des Schuldners im Übrigen, insbesondere zu weiterhin nicht bedienten Verbindlichkeiten des Schuldners vorzutragen.

Bezieht sich ein im Wesentlichen gleichbleibendes, dauerhaft schleppendes Zahlungsverhalten des späteren Schuldners auch auf einen Zeitraum, in dem der Schuldner seine Zahlungen unstreitig noch nicht eingestellt hatte, kann aus dem Zahlungsverhalten nicht auf eine später eingetretene Zahlungseinstellung geschlossen werden.

Einem Anfechtungsgegner, der nur das Zahlungsverhalten des Schuldners ihm gegenüber kennt, fehlt in der Regel der für die Beurteilung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit erforderliche Überblick über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners. 

II. Sachverhalt
Die klagende Insolvenzverwalterin einer Spedition macht gegen die Beklagte die Anfechtbarkeit von insgesamt 36 Zahlungen auf Vergütungsansprüche für Transportleistungen nach § 133 I InsO im Zeitraum April 2014 bis September 2015 geltend. Der Insolvenzeröffnung lag ein am 31.7.2015 erfolgter Insolvenzantrag zugrunde. Bereits zu Beginn des Jahres 2013 hatten öffentlich-rechtliche Gläubiger fruchtlos zu vollstrecken versucht und Insolvenzanträge gestellt, die nach Zahlungen Dritter für erledigt erklärt wurden. Die Schuldnerin hatte gegenüber dem Finanzamt ihre Zahlungsunfähigkeit eingeräumt.

Der Beklagten, die seit Jahren eine Geschäftsbeziehung zur Schuldnerin hatte, waren dies Umstände nicht bekannt. Sie kannte nur das im Wesentlichen seit Jahren gleichbleibend schleppende Zahlungsverhalten und ihre teils fruchtlosen Mahnungen, in denen gerichtliche Mahnverfahren oder rechtliche Schritte in Aussicht gestellt wurden.

Die Berufung gegen das bezüglich der Hauptforderung stattgebende Urteil des Landgerichts wurde durch Beschluss nach § 522 II ZPO zurückgewiesen. Die vom Senat daraufhin zugelassene Revision war erfolgreich und führte zur Klageabweisung.

III. Rechtliche Wertung
Der BGH stellt zunächst fest, dass sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine Anfechtbarkeit nur aus § 133 I InsO in der bis zum 4.4.2017 geltenden Fassung ergeben könne. Der dafür erforderliche Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und die Kenntnis des Anfechtungsgegners könnten als subjektive innere Tatsachen in aller Regel nur aus (Hilfs-)Tatsachen hergeleitet werden. Der Tatrichter habe dabei die jeweilige BGH-Rechtsprechung zu den Beweisanzeichen zu berücksichtigen, wobei im Falle der kongruenten Deckung die von den Beteiligten erkannte Zahlungsunfähigkeit für den Vollbeweis nicht mehr genüge und zusätzlich eine aus Schuldnersicht negative Befriedigungsperspektive erforderlich sei. Die erkannte Zahlungsunfähigkeit zum nach § 140 InsO maßgeblichen Zeitpunkt sei Voraussetzung für ein in die Gesamtwürdigung einzubeziehendes Beweisanzeichen.

Das Berufungsgericht habe zwar von einer ursprünglichen Zahlungseinstellung im Zusammenhang mit den rückständigen öffentlich-rechtlichen Forderungen, den Vollstreckungsmaßnahmen und den eigenen Erklärungen der Schuldnerin ausgehen können. Diese wirke nach der Senatsrechtsprechung grundsätzlich fort, wobei die Fortdauervermutung in Stärke und Dauer vom Ausmaß der Zahlungsunfähigkeit abhängig sei. 

Zwar habe grundsätzlich der Anfechtungsgegner die allgemeine Wiederaufnahme der Zahlungen darzulegen und nachzuweisen. Der dafür erforderliche Vortrag sei aber durch eine sekundäre Darlegungslast des Verwalters beschränkt. Für das Auslösen dieser sekundären Darlegungslast sei es erforderlich, dass ein vom Anfechtungsgegner darzulegender Umstand bestehe, der eine Wiederaufnahme der Zahlungen im Allgemeinen als möglich erscheinen lasse. Dies sei anzunehmen, wenn die zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit herangezogene Verbindlichkeiten nicht mehr bestehen und die Kenntnis vom Zahlungsverhalten im Übrigen fehlt. Dem Verwalter obliege dann zum Zahlungsverhalten im entsprechenden Zeitraum vorzutragen, um der Beklagte in die Lage zu versetzen, die Fortdauervermutung zu entkräften.
Mit Wegfall der öffentlich-rechtlichen Forderungen durch Drittzahlungen und Erledigung der Insolvenzanträge sei die Klägerin gehalten gewesen, zum Umfang nicht bedienten Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gläubigern in diesem Zeitpunkt vorzutragen. Dem dauerhaft schleppenden, aber im Wesentlichen gleichbleibenden Zahlungsverhalten gegenüber der Beklagten lasse sich im Rahmen der Gesamtumstände keine Zahlungseinstellung zum Zeitpunkt der angefochtenen Zahlungen herleiten, nachdem dies bereits für einen Zeitraum, in dem der Schuldner seine Zahlungen noch nicht eingestellt hatte.

Von einer Kenntnis der Beklagten von einem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz könne auch unter Berücksichtigung des § 133 I S. 2 InsO in der alten Fassung nicht ausgegangen werden. Die Annahme einer drohenden Zahlungsunfähigkeit erfordere eine in die Zukunft gerichtete Prognose zur Finanzlage. Kenne der Anfechtungsgegner nur das Zahlungsverhalten des Schuldners ihm gegenüber, fehle es regelmäßig an den für die Prognose notwendigen Kenntnissen, die zur Beurteilung der drohenden Zahlungsunfähigkeit erforderlich seien.

IV. Praxishinweis
Die Entscheidung ist Teil der „Neujustierung“ der BGH-Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung, die der Senat im Jahr 2021 begonnen hat und die sich nun in zahlreichen Folgenentscheidungen konkretisiert. 

Der BGH fordert bei der Beweiswürdigung im Rahmen des § 286 ZPO bei kongruenten Deckungen einen weniger statischen Blick und stellt die Entwicklung der konkreten Gesamtumstände mit Bezug zur Liquiditätslage in den Vordergrund. Insolvenzverwalter werden aufgrund der sekundären Darlegungslast künftig den Vortrag zur Liquiditätssituation auf den Zeitraum nach einer nachweislich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit erweitern und vertiefen müssen. 

Von erheblicher praktischer Bedeutung ist das nun bei § 133 I S. 2 InsO bestehende Erfordernis einer Kenntnis der Liquiditätslage beim Anfechtungsgegner, die ihm eine Prognose zur Entwicklung der Liquiditätslage ermöglicht. Diese soll regelmäßig fehlen, wenn nur das Zahlungsverhalten dem Anfechtungsgegner gegenüber bekannt ist. Damit erhöht der BGH die Hürden für die Vorsatzanfechtung gegenüber Lieferanten und Dienstleistern merklich.

Rechtsanwalt Karsten Kiesel 

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