Die Regelung der Ausnahme: Wo kein Schuldner, da kein Eröffnungsbeschluss?

24. Januar 2022 Blog Insolvenzrecht Wirtschaftsrecht

Ein Eröffnungsbeschluss in einem Insolvenzverfahren ist nur in Ausnahmefällen nichtig. Dr. Andrea Braun von Noerr und Dr. Jürgen Erbe von Schultze & Braun erläutern im Interview anhand eines Falles, welche Kriterien dabei maßgeblich sind und welche Auswirkungen eine Nichtigkeit hätte.

Frau Braun, Herr Erbe, eine Insolvenz ist ja trotz aller Sanierungsbestrebungen auch ein Marktaustrittsinstrument – also für die geordnete Auflösung einer insolventen Gesellschaft. Dass jedoch ein gerichtlicher Insolvenzeröffnungsbeschluss für nichtig erklärt – also aufgehoben – wird, ist eher ungewöhnlich, oder?

Braun: In der Tat. Denn für gerichtliche Beschlüsse gilt die Devise: Sie sind nur in Ausnahmefällen nichtig. Letztlich wäre eine Nichtigkeit des Insolvenzeröffnungsbeschlusses im konkreten Fall allerdings die insolvenzrechtliche Folge davon, dass zivil- und gesellschaftsrechtlich gesehen ein Rechtsträger nicht mehr existiert, weil die Vermögensmasse einer Personengesellschaft auf den letzten verbleibenden Gesellschafter angewachsen ist. Man kann also durchaus sagen, dass zwischen dem Insolvenz- und Gesellschaftsrecht eine Verbindung fehlt, die – durch die Nichtigkeit eines Insolvenzeröffnungsbeschlusses – zu einer Rechtsunsicherheit in Insolvenzverfahren führt, die durch eine gesetzliche Normierung behoben werden sollte.

Erbe: Der Fall, über den das Landgericht Freiburg im Juni 2021 entschieden hat, zeigt, dass man als Insolvenzverwalter immer wieder mit Ausnahmen zu tun hat. Im konkreten Fall ging es um eine Unternehmensgruppe, die praxistypisch aufgebaut war. Die Kommanditgesellschaften waren operativ tätig. Die einzige Komplementärin war jeweils eine leere Verwaltungs-GmbH. Als Kommanditistin aller KGs der Gruppe fungierte eine Holdinggesellschaft. Diese stellte gemeinsam mit den KGs einen Insolvenzantrag. Untypisch war jedoch, dass die Kommanditistin und nicht die Komplementärin einen Insolvenzantrag stellte. Grund war eine Mithaft der Kommanditistin für einzelne Vertragsverhältnisse der KGs.

 

Was waren die Auswirkungen?

Erbe: Die Folge war, dass das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren der Holdinggesellschaft – also der Kommanditistin – zeitgleich mit dem Verfahren einer KG und vor dem Verfahren einer der anderen KGs eröffnete. Allerdings waren die Regelungen der §§ 131 III 1 Nr. 2 und 161 II HGB in den Gesellschaftsverträgen der KGs nicht abbedungen worden. Die Beschwerdeführerin machte daher geltend, die Insolvenzeröffnung über das Vermögen der Holdinggesellschaft als Kommanditistin hätte dazu geführt, dass das Vermögen der KGs auf die verbleibende Komplementärin übergegangen sei. Das wiederum hätte zu einer Vollbeendigung der KGs geführt, was einer gleichzeitigen oder nachgelagerten Insolvenzeröffnung der KGs entgegenstehen würde, da diese ja nicht mehr existierten. Aus diesem Grund seien die Insolvenzeröffnungsbeschlüsse über das Vermögen der KGs nichtig und aufzuheben.

 

Hatte die Beschwerdeführerin mit ihrer Argumentation Erfolg?

Braun: Nein. Das Rechtsmittelgericht bestätigte zwar zunächst die höchstrichterlich geklärte zivilrechtliche Rechtsfolge der sogenannten Anwachsung bei Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters in einer Personenhandels- oder Personengesellschaft. Da ein Eröffnungsbeschluss nur in Ausnahmefällen für nichtig erklärt werden kann und eine solche Ausnahme aus Sicht des Gerichts nicht vorlag, entschied es jedoch zu Recht, dass die Eröffnungsbeschlüsse nicht nichtig waren.

 

Welche Ausnahmen können dazu führen, dass ein gerichtlicher Beschluss nichtig ist?

Braun: Um die Rechtssicherheit und -klarheit zu wahren, sollen gerichtliche Entscheidungen nur im besonderen Ausnahmefall aufgehoben werden. Vor diesem Hintergrund bestehen nur wenige Ausnahmen, in denen die Nichtigkeit eines insolvenzrechtlichen Eröffnungsbeschlusses angenommen werden kann. Wenn der Beschluss bei verständiger Würdigung aller Umstände aber äußerliche und offenkundige Fehler enthält, die ein wesentliches Merkmal für eine richterliche Entscheidung betreffen, ist es möglich, einen Beschluss aufzuheben. Wichtig ist, dass der Mangel so schwerwiegend sein muss, dass der Beschluss als nichtig angesehen werden muss. Das ist etwa der Fall, wenn die Unterschrift des Richters fehlt oder die deutsche Gerichtsbarkeit überhaupt nicht zuständig ist. Zudem ist ein Eröffnungsbeschluss nichtig, wenn der Schuldner nicht existiert.

Erbe: Jetzt könnte man meinen, dass dieser Fall beim Landgericht Freiburg vorlag. Allerdings gilt die Regel `Wo kein Schuldner, da auch kein Eröffnungsbeschluss´ nur dann, wenn nicht wegen der Eintragung im Handelsregister der Schein einer noch existenten Gesellschaft besteht oder der wahre Schuldner durch Auslegung ermittelt werden kann.

 

Wie ging das Registergericht mit der Tatsache um, dass die Kommanditistin den Insolvenzantrag gestellt und später im Verfahren die Nichtigkeit der Eröffnungsbeschlüsse beantragt hat?

Erbe: Man kann durchaus sagen, dass das beim Gericht nicht gut ankam, dass gerade auf Antrag derjenigen, die den Insolvenzantrag gestellt und damit unmittelbar den Eröffnungsbeschluss bewirkt hatten, nun die Nichtigkeit des Beschlusses festgestellt werden sollte. Der Beschluss stellt schließlich eine antragsgemäße Entscheidung dar, sodass ein Vorgehen dagegen rechtsmissbräuchlich scheint.

Braun: Hinzu kommt, dass gegen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 34 II InsO nur der Schuldner innerhalb der Beschwerdefrist beschwerdebefugt ist. Eine Umgehung dieser Beschränkung des Beschwerderechts durch einen Antrag, der auf eine Wirkung abzielt, die der Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses gleichkommt, ist daher unzulässig.

 

Hat das Rechtsmittelgericht anhand dieses Falles denn entschieden, ob ein Insolvenzverfahren eröffnet wird, wenn der Rechtsträger zwar zivilrechtlich nicht mehr besteht, allerdings noch im Handelsregister eingetragen ist?

Erbe: Nein, eine solche Entscheidung hatte das Rechtsmittelgericht aber auch gar nicht zu treffen. Allerdings liefert auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hierzu keine eindeutige Entscheidung. Die Karlsruher Richter stellen nur klar, dass ein Insolvenzeröffnungsbeschluss nicht aufgehoben werden kann, wenn eine Schuldnergesellschaft noch im Handelsregister eingetragen ist. Richtigerweise ist bei der Frage, ob ein Insolvenzeröffnungsbeschluss ergehen darf, zu unterscheiden, ob es zu einer Anwachsung und Vollbeendigung des Rechtsträgers vor oder nach einer Insolvenzantragstellung kommt. Der Grundsatz, dass alle Voraussetzungen für die Verfahrenseröffnung am Tag der Eröffnungsentscheidung vorliegen müssen, wird insoweit durchbrochen.

Braun: Wenn die Vollbeendigung einer Schuldnergesellschaft vor Anordnung von Maßnahmen nach § 21 InsO erfolgt, kann alleine der Eintrag im Handelsregister, der zu diesem Zeitpunkt regelmäßig noch besteht, nicht zur Zulässigkeit eines Insolvenzverfahrens führen. Denn es gibt keinen Grund, warum das Insolvenzrecht sich hier über die zivilrechtliche Lage hinwegsetzen und das Vermögen eines nicht mehr bestehenden Rechtsträgers abgewickelt werden sollte. Wäre das anders, bestünden auch erhebliche Unsicherheiten dahingehend, wie lange noch gegebenenfalls ein Partikularinsolvenzverfahren über das Sondervermögen eines – nicht mehr existierenden – Schuldners eröffnet werden könnte und wann die Vermögensvermischung so abgeschlossen ist, dass nur über den aufnehmenden Rechtsträger ein Verfahren eröffnet werden kann. Beliebig lange kann diese Zeitspanne ja schließlich nicht sein.

 

Wenn zum Zeitpunkt der Anwachsung und Beendigung des Insolvenzschuldners bereits Maßnahmen im vorläufigen Insolvenzverfahren ergangen sind, müsste das dann ja dazu führen, dass das Insolvenzverfahren weiterhin zulässig bleibt und ein Insolvenzeröffnungsbeschluss ergehen kann. Ist das richtig?

Braun: Ja. Allerdings nur dann, wenn der Insolvenzantrag nicht in zulässiger Art und Weise zurückgenommen wird. Eine solche Rücknahme nach § 13 II InsO kann dann möglich sein, wenn die Anwachsung dazu führt, dass der Insolvenzgrund entfällt. Ist das nicht der Fall, bestehen nämlich ein berechtigtes Interesse und ein Erfordernis, das Vermögen der zivilrechtlich beendeten Insolvenzschuldnerin in einem Insolvenzverfahren abzuwickeln und für das angewachsene Vermögen eine Sondermasse zu bilden.

Erbe: Ein Insolvenzverfahren bezieht sich, anders als zum Beispiel ein Zivilprozess, nicht auf ein Rechtssubjekt als solches. Vielmehr wird das Verfahren gemäß § 11 I 1 InsO über das Vermögen eines Rechtssubjekts eröffnet. Trotz Beendigung einer Gesellschaft besteht ihre Insolvenzfähigkeit aus diesem Grund nach § 11 InsO weiterhin fort. Das Vermögen ist einem Insolvenzverfahren zugänglich, solange ein abgegrenztes Vermögen vorliegt, das bestimmten Gläubigern unter Ausschluss anderer Gläubiger haftungsrechtlich zugeordnet ist. Der Rechtsgedanken des § 11 III InsO ergibt, dass die zivilrechtliche Anwachsung nicht automatisch zum Ende der Insolvenzfähigkeit führt.

 

Würde das bei einer Liquidationsgesellschaft anders aussehen?

Braun: Bei einer Liquidationsgesellschaft ist ihr Zweck – auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers – bereits im Namen enthalten: Die Abwicklung. Diese ist aber auch dann gegeben, wenn bereits mit dem Insolvenzbeschlag des vorläufigen Insolvenzverfahrens belastetes Vermögen existiert. Dann sind beispielsweise bei der Eröffnung des Verfahrens bereits Masseverbindlichkeiten begründet worden, das Insolvenzgeld wurde vorfinanziert oder sonstige Handlungen sind im Vertrauen auf eine gerichtliche Anordnung der Eröffnung getätigt worden.

Erbe: Fakt ist, dass es für die insolvenzrechtliche Praxis wichtig ist, die – auch gesetzlich vorgesehenen – Vorwirkungen der Insolvenzeröffnung nicht nur deswegen nachträglich zu beseitigen, weil sich der Rechtsträger des Vermögens ändert. Darauf kommt es nach der Konzeption des § 11 InsO ja auch überhaupt nicht an. Das Vermögen als Bezugsobjekt des Insolvenzverfahrens erfüllt weiterhin alle Voraussetzungen für eine Insolvenzeröffnung. Sie ist daher auch vorzunehmen.

 

Sehe das anders aus, wenn die vollbeendete Gesellschaft aus dem Handelsregister gelöscht würde, bis die Eröffnungsentscheidung ergeht?

Erbe: Auch das wurde bisher gerichtlich nicht entschieden. Man könnte zunächst argumentieren, das ja, denn dann fällt auch der Rechtsschein weg, auf den sich die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung gestützt hat. Der verbleibende Rechtsträger, der bisher nicht insolvent war, erhält zivilrechtlich das Vermögen und die Verbindlichkeiten der insolventen KG. Wenn man jedoch, wie oben dargestellt, auf die gerichtliche Anordnungsentscheidung von Maßnahmen nach § 21 InsO abstellt, dann wäre es nur konsequent, auf diesen Zeitpunkt abzustellen. Eine spätere Löschung im Handelsregister während des Eröffnungsverfahrens kann dann keinen Unterschied mehr machen.

 

Was ist die Konsequenz?

Braun: Jeder Fall müsste individuell und sorgfältig geprüft werden. Allerdings ist davon auszugehen, dass es solche Konstellationen nur in Einzelfällen gibt, da eine Komplementär-GmbH ja aus Haftungsgründen wenig bis kein eigenes Vermögen besitzt. Verfahrensrechtlich gibt es allerdings ohne Insolvenzgründe keine Notwendigkeit für ein Insolvenzverfahren. Denn der neue Rechtsträger könnte die begründeten Masseverbindlichkeiten begleichen und das vorfinanzierte Insolvenzgeld zurückzahlen. Handlungen des vorläufigen starken Insolvenzverwalters oder mit Zustimmung des vorläufigen schwachen Insolvenzverwalters behielten nach den allgemeinen Regelungen ihre Wirksamkeit.

Erbe: Die insolvenzrechtliche Abwicklung ist wie ein Partikularinsolvenzverfahren über das angewachsene Vermögen durchzuführen. Dieses Vermögen ist getrennt von dem Vermögen der übernehmenden Gesellschaft zu betrachten und stellt dann ein Sondervermögen dar. Die übernehmende Gesellschaft wird durch die Anwachsung zum Rechtsträger dieser Sondermasse.

 

Welche Regeln gelten in einem solchen Verfahren?

Braun: In einem Partikularinsolvenzverfahren werden die Regeln der Nachlassinsolvenz nach den §§ 315 ff. InsO analog angewendet. Grund dafür ist, dass der Gesetzgeber die aus der Vollbeendigung bedingten Probleme bislang nicht gesehen und geregelt hat, sodass eine planwidrige Regelungslücke bei gleicher Interessenlage besteht. Wichtig ist, dass die Verfahren strikt zu trennen sind, um eine getrennte Befriedigung der Gläubiger des anwachsenden Rechtsträgers und des übernehmenden Rechtsträgers zu ermöglichen. In einem Insolvenzplanverfahren würden daher zum Beispiel Insolvenzpläne über beide Gesellschaften notwendig sein. In einer übertragenden Sanierung müssen beide Rechtsträger beziehungsweise deren Insolvenzverwalter beteiligt werden und die Gegenstände übertragen. Die Erklärung des Insolvenzverwalters der beendeten Gesellschaft beziehen sich auf die haftungsrechtliche Freigabe, während der übernehmende Rechtsträger beziehungsweise der Insolvenzverwalter die zivilrechtliche (Eigentums-)Lage ändert.

Erbe: Diese Trennung muss während des ganzen Verlaufs der Verfahren eingehalten werden. Gleichzeitig sollten die Verfahren – da die beiden Rechtsträger ja eine enge Verbindung haben – sinnvollerweise eng miteinander verzahnt werden. Die Devise `Man kann nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander´ ist allerdings keine Ausnahme, sondern generell typisch und sinnvoll für Insolvenzverfahren von Unternehmensgruppen. Diese Situation könnte vermieden werden, wenn vor Antragstellung oder zumindest vor Insolvenzeröffnung die Gesellschaftsverträge der KGs dahingehend geändert werden, dass die §§ 131 III 1 Nr. 2 und 161 II HGB abbedungen werden.

Die Interviewpartner

Dr. Andrea Braun

ist Rechtsanwältin und Assoziierte Partnerin bei der Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB in Frankfurt am Main. Sie berät Gläubiger, Investoren und Unternehmen oder deren Organe innerhalb und außerhalb eines Insolvenzverfahrens. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind die Beratung von Geschäftsführern in der Krise der Gesellschaft und bei der Insolvenzantragstellung, von Lieferanten in der Insolvenz ihrer Kunden und von Gesellschaften und Insolvenzverwaltern bei der Betriebsfortführung in der Insolvenz.

Dr. Jürgen Erbe, MBA

ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Insolvenzrecht bei Schultze & Braun. Er wird im Raum Mannheim und Frankfurt an verschiedenen Gerichten bestellt und hat bereits zahlreiche Unternehmen in ihren Insolvenz-, Eigenverwaltungs- oder Schutzschirmverfahren begleitet – als Insolvenzverwalter, Sachwalter und als CRO.