Klagen von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit Betriebsübergängen im Rahmen eines „Pre-Pack“ fallen nicht unter die Annexzuständigkeit

08. Februar 2022 Newsletter International

In konsequenter Anwendung der Rechtsprechung des EuGH zur Abgrenzung der EuInsVO zur EuGVVO entschied der französische Kassationsgerichtshof, das oberste französische Zivilgericht, im Dezember letzten Jahres, dass sich die Frage der internationalen Zuständigkeit für Klagen von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit dem Übergang von Arbeitsverhältnissen an einen Übernehmer im Rahmen eines englischen „Pre-Pack“ nach der EuGVVO richtet.

Einzelheiten zur Entscheidung des französischen Kassationsgerichtshofs erfahren Sie in diesem Newsletter.

Ellen Delzant
Ellen Delzant

Avocate (Rechtsanwältin, zugelassen in Frankreich)

Rechtsanwältin

Kassationsgerichtshof (Cour de Cassation), Urteil vom 8. Dezember 2021, Nr. 20-13.905 FB: JurisData Nr. 2021‑019858

I. Sachverhalt

Die Gesellschaft englischen Rechts Mint Equities Limited, später firmierend MEQ Realisations Limited, mit dem Sitz im Vereinigten Königreich und tätig als Makler von Finanzinstrumenten für Rechnung Dritter, stellte mit Wirkung ab dem 1.4.2010 den Kläger als Makler für die Pariser Niederlassung der Gesellschaft ein. Auf Antrag der Geschäftsführer der Gesellschaft Mint Equities Limited bestellte der High Court of Justice, Chancery Division Companies Court (Vereinigtes Königreich) mit Beschluss vom 19.8.2010 auf der Grundlage des Insolvency Act 1986 zwei Administrators (Insolvenzverwalter). Der High Court erklärte sich in Anwendung von Art. 3 der EuInsVO (2000) für zuständig, da sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Gesellschaft in Großbritannien befand. Mit Vertrag vom 19.8.2010 veräußerten die durch ihre Administrators vertretenen Gesellschaften Mint Partners Limited und Mint Equities Limited (jeweils in Administration) im Rahmen eines „Pre-pack“ ihre Geschäftstätigkeit und Aktiva an die BGC Brokers LP. Ausgenommen von dieser Übertragung war jedoch die Geschäftstätigkeit in Frankreich sowie das in Frankreich belegene Vermögen. Es wurde zwar die Übertragung sämtlicher Arbeitsverhältnisse der im Vereinigten Königreich, Dubai und in der Schweiz angestellten Arbeitnehmer vorgesehen, ausgeschlossen wurde jedoch ausdrücklich die Übernahme der in Frankreich tätigen Arbeitnehmer.

Auf Antrag der beiden Administrators eröffnete das Handelsgericht in Paris mit Beschluss vom 28.10.2010 ein Sekundärinsolvenzverfahren über das Vermögen der Mint Equities Limited und bestellte einen Liquidator, der mit Schreiben vom 12.11.2010 das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger kündigte. Dieser verklagte die Mint Equities Limited, die Übernehmergesellschaft BGC Brokers LP sowie die britischen Insolvenzverwalter und den französischen Liquidator vor dem Pariser Arbeitsgericht auf Schadensersatz wegen unberechtigter und unwirksamer Kündigung und berief sich dabei auf Art. 3 und 4 der Betriebsübergangsrichtlinie (RL 2001/123 vom 12.3.2001) und Art. L.1124-1 des französischen Arbeitsgesetzbuchs. Das französische Arbeitsgericht erklärte sich für zuständig, wies jedoch die Klage dem Grunde nach im Wesentlichen ab. Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht, die Cour d’appel Paris, verneinte dagegen die internationale Zuständigkeit der französischen Arbeitsgerichte und ging von einer Annexzuständigkeit des britischen Insolvenzgerichts gem. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO (2000) aus. Dagegen richtete sich die Revision des Klägers.

II. Entscheidung des Kassationsgerichtshofs

Der Kassationsgerichtshof hob das Urteil des Pariser Berufungsgerichts wegen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 und 2 EuGVVO und Art. 3 Abs. 1 EuInsVO (2000) auf. Er beruft sich auf die Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urt. v. 4.9.2014 – C-157/13, BeckRS 2014, 81724 Rn. 27 – Nickel & Goeldner Spedition; Urt. v. 11.6.2015 – C-649/13, BeckRS 2015, 80752 Rn. 28 – Comité d'entreprise de Nortel Networks u.a.; Urt. v. 9.11.2017 – C-641/16, BeckRS 2017, 130375 Rn. 22 – Tünkers France und Tünkers Maschinenbau, und Urt. v. 20.12.2017 – C-649/16, BeckRS 2017, 135790 Rn. 29 - Valach u. a.), nach der das Gericht des Hauptinsolvenzverfahrens für alle Klagen zuständig ist, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Maßgeblich dafür, ob eine Klage unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgeht, sei nicht der prozessuale Kontext, sondern ihre Rechtsgrundlage. Entscheidend sei, ob diese den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts oder den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren entspringe. Der Kassationsgerichtshof führt dazu aus:

„Die Klage des Arbeitnehmers war auf Art. L.1224-1 des französischen Arbeitsgesetzbuchs gestützt, der im Falle einer Änderung der juristischen Situation des Arbeitgebers die Fortsetzung sämtlicher zum Datum der Änderung bestehenden Arbeitsverhältnisse mit dem neuen Arbeitgeber vorsieht. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift setzt nicht voraus, dass ein Insolvenzverfahren i.S.d. EuInsVO (2000) eröffnet wurde. Sie hat vielmehr die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen zum Gegenstand und setzt auch nicht voraus, dass ein Verwalter i.S.d. Art. 2 EuInsVO (2000) tätig wird …“

III. Praxishinweis

Der französische Kassationsgerichtshof hat mit dieser Entscheidung konsequent die vom EuGH entwickelte Rechtsprechung zur Annexzuständigkeit nach der EuInsVO umgesetzt. Er erlaubt es damit Arbeitnehmern nicht nur, ihre Rechte beim Übergang von Betrieben (Betriebsteilen) im Zuge eines „Pre-pack“ bei der spezialisierten Arbeitsgerichtsbarkeit einzuklagen. Er ermöglicht es Arbeitnehmern außerdem, gem. Art. 21 Abs. 1 b EuGVVO (vormals Art. 19 Ziff. 2 a)) vor dem Gericht des Ortes zu klagen, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet bzw. zuletzt gewöhnlich verrichtet hat. Diese Entscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Arbeitnehmer zu begrüßen, denen es erspart bleibt, ihre Rechte vor den Insolvenzgerichten eines anderen Mitgliedstaates geltend zu machen, was insbesondere mit erhöhten Kosten verbunden wäre.

In materiell-rechtlicher Hinsicht hatte der Kassationsgerichtshof nicht zu entscheiden, ob im Zuge des „Pre-pack“ nach britischem Recht der Übergang der in Frankreich tätigen Arbeitnehmer in rechtmäßiger Weise ausdrücklich vom Betriebsübergang auf den Übernehmer ausgenommen werden und den betroffenen Arbeitnehmern dann nach Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens durch den französischen Liquidator gekündigt werden konnte. In erster und zweiter Instanz wurden die Anträge des klagenden Arbeitnehmers auf Zahlung von Schadensersatz wegen unwirksamer und rechtswidriger Kündigung abgewiesen. Insoweit hatte der Kläger keine Revision eingelegt.

Materiell-rechtliche Fragen der Auslegung der Art. 3 bis 5 der Betriebsübergangsrichtlinie im Rahmen eines „Pre-pack“ nach niederländischem Recht waren Gegenstand des umstrittenen und vielfach kommentierten Estro-Urteil des EuGH (EuGH, Urt. v. 22.6.2017 - C-126/16, BeckRS 2017, 113943; FD-InsR 2017, 393124 m. Anm. Freund). Nach Art. 5 Abs. 1 der Betriebsübergangsrichtlinie gelten deren Art. 3 (Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang) sowie Art. 4 (Verbot der Kündigung) nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde. Im Estro-Urteil entschied der EuGH, dass die Schutzvorschriften zum Betriebsübergang zu Gunsten der Arbeitnehmer gelten, wenn im Rahmen einer Unternehmenssanierung ein „Pre-pack“ in der Ausgestaltung stattfindet, dass der Übergang eines Unternehmens vor der Konkurseröffnung vorbereitet und unmittelbar danach mit Hilfe eines vom Gericht bestellten Verwalters in spe vollzogen wird. Im Estro-Urteil hatte der EuGH die Anwendbarkeit der Art. 3 und 4 der Betriebsübergangsrichtlinie auf die konkrete Sachverhaltskonstellation bejaht.

Ob in dem der hier kommentierten Entscheidung des Kassationsgerichtshof zugrunde liegenden Sachverhalt der Betriebsübergang unter ausdrücklichem Ausschluss der in Frankreich tätigen Arbeitnehmer im Rahmen eines „Pre-pack“ nach britischem Recht und der anschließenden Kündigung der betroffenen Arbeitnehmer durch den französischen Sekundärinsolvenzverwalter den im Estro-Urteil des EuGH entwickelten Grundsätzen standhält, erscheint zumindest fraglich. Darüber hatte der Kassationsgerichtshof jedoch nicht zu entscheiden.

Dem EuGH liegen erneut Vorlagefragen über die Auslegung des Artikels 5 der Betriebsübergangsrichtlinie im Zusammenhang mit einem „Pre-pack“ nach niederländischem Recht zur Entscheidung vor. Mit einem Urteil des EuGH über das am 5.6.2020 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen eines niederländischen Gerichts (Rechtssache C-237/20, Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) - Federatie Nederlandse Vakbeweging/Heiploeg Seafood International BV, Heitrans International BV) dürfte in Kürze zu rechnen sein.

Ellen Delzant, Avocate (Rechtsanwältin, zugelassen in Frankreich), Rechtsanwältin