Fokussierung auf deutsche Schlüsselindustrien

22. Oktober 2024 Blog Insolvenzrecht Steuerberatung Restrukturierung und Sanierung Wirtschaftsrecht

Thomas Fürst, Vorstand der Sparkasse Bremen a.D., spricht im Interview darüber, warum sich ‚Made in Germany‘ seiner Ansicht nach im Sinkflug befindet und wie die wirtschaftspolitische Richtung geändert werden könnte.

Herr Fürst, die freie Sparkasse Bremen wurde 1825 von Bremer Bürgermeistern, Senatoren, Kaufleuten und Richtern gegründet, um Bürgern die Möglichkeit zu geben, ihr Erspartes sicher verwahren zu lassen. Was waren damals die Risiken?

Fürst: Wenige Jahre, bevor die freie Sparkasse Bremen gegründet wurde, befanden sich die USA in ihrer ersten großen Wirtschaftskrise. Fast jede Branche und jedes Produkt waren damals von einem massiven Preisverfall betroffen, die Anzahl der Arbeitslosen stieg unaufhörlich. Ohne finanzielle Reserven – etwa bei einer Bank oder Sparkasse – sind Verbraucher, aber auch Unternehmen damals wie heute schnell in eine existenzgefährdende Situation gekommen. Die Gründer der freien Bremer Sparkasse wollten dem etwas entgegensetzen und allen Bremer Bürgern die Möglichkeit zur Vermögensbildung geben. Zudem war und ist es auch Aufgabe der Sparkasse, die Region mit Krediten zu versorgen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die zahlreichen Spekulationsblasen und Wirtschaftskrisen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts und die verbreiteten Staatspleiten durch überhöhte Verschuldung zu den häufigsten Krisenverursachern der letzten Jahrhunderte zählen.

Die Staatsverschuldung ist in Europa aktuell sehr hoch. Zinslasten, der demografische Wandel und ein realer Einnahmenrückgang setzten den Bundeshaushalt unter Druck. Ein Risiko?

Fürst: Zurzeit gibt es 29 Sondervermögen auf Bundesebene. Der weit überwiegende Teil davon ist kreditfinanziert. Das Verschuldungspotenzial der Sondervermögen lag Ende 2023 bei insgesamt rund 527 Milliarden Euro. Das ist das rund Fünffache der im Finanzplanungszeitraum 2023 bis 2027 ausgewiesenen Kreditaufnahme. Gleichzeitig hat Deutschland riesige Ansprüche aus dem Zahlungsverkehrssystem Target der Europäischen Zentralbank. Die Notenbanken Italiens, Spaniens, Griechenlands und Frankreichs weisen hohe Target-2-Verbindlichkeiten gegenüber der EZB aus, während Deutschland, Luxemburg und die Niederlande hohe Forderungen haben. Die sich auftürmenden Salden könnten einen Vermögensverschiebung von Deutschland zu anderen Staaten und einen erheblichen Vermögensverlust hierzulande auslösen.

Wie bewerten Sie die wirtschaftliche Lage in Deutschland?

Fürst: Als schlecht bis sehr schlecht. Die Zahl der Insolvenzen ist in 2024 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 14 Prozent gestiegen. Die Produktivität hat sich in den vergangenen fünf Jahren kaum noch verbessert. Das Bruttoinlandsprodukt sinkt im zweiten Jahr in Folge und wird nach Meinung führender Forschungsinstitute auch 2025 nicht ansteigen. Schauen wir auf die demografische Entwicklung, liegt die große Welle von Erwerbstätigen, die in Rente gehen, erst noch vor uns. Die transferfinanzierten Zahlungen, zum Beispiel Rente, Kranken- und Pflegeversicherung, werden das Wachstum einschränken, warnen die Wirtschaftswaisen einheitlich und empfehlen dringend Reformen. Unsere Energiepreise gehören zu den höchsten weltweit und die Ökonomen sprechen bereits von „Grünflation“. Investitionen werden ins Ausland verlagert und laut einem Bericht der OECD belegt Deutschland mit jährlich etwa 200.000 Menschen den 3. Platz in der Abwanderung qualifizierter Kräfte.

Das klingt alles andere als gut.

Fürst: Die Zeit, in der Deutschland das Zugpferd der europäischen Wirtschaft war, in der das Ausland voller Bewunderung auf die deutsche Mischung aus Industriekonzernen und mittelständischer Wirtschaft blickte, gehört meiner Meinung nach der Vergangenheit an. Die Gegenwart sieht aus meiner Sicht düster aus: Der Internationale Währungsfonds prognostiziert, dass Deutschland im laufenden Jahr erneut die einzige Industrienation sein wird, deren Volkswirtschaft schrumpft. Selbst das mit Sanktionen belegte Russland, das in der Ukraine einen brutalen Krieg führt, kann wieder auf ein Wirtschaftswachstum hoffen. Deutschland steckt in einer Phase der Deindustrialisierung.

Lässt diese Prognose nicht das ökonomische Potential Deutschlands außer Acht?

Fürst: Leider nein. Während China Milliarden in die Hand genommen hat, um in Bildung, Infrastruktur und erneuerbare Energien zu investieren, hat Deutschland versucht, mit allen Tricks am alten Geschäftsmodell festzuhalten. Die gesamte Chemieindustrie ächzt unter den Energiekosten. Der Chemiekonzern BASF plant aus Kostengründen rund 10 Prozent seiner Produktionskapazitäten in Ludwigshafen abbauen. Eine ganze Reihe von Industriekonzernen will mittlerweile ihre Produktion ins Ausland verlagern. Der Industriestrompreis inklusive Steuern und Umlagen lag im vergangenen Jahr bei durchschnittlich bei 26,5 Cent pro Kilowattstunde. Geht es um die Energiepreise, ist Deutschland, aber auch Europa als Industriestandort nach Ansicht von Christian Kullmann, Chef des Chemiekonzerns Evonik, schlichtweg nicht mehr wettbewerbsfähig.

Woran liegt das?

Fürst: Durch die verfehlte Energiepolitik der vergangenen Jahrzehnte hatten wir uns einerseits von russischen Gasimporten abhängig gemacht, was nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zu drastischen Preissteigerungen führte. Andererseits hat die deutsche Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft bei gleichzeitiger die Abkehr von fossilen Energieträgern, zu einer Energieverknappung und Destabilisierung der Versorgung geführt. Die deutsche Automobilindustrie hat angesichts immer neuer Umsatzrekorde in den vergangenen Jahren versäumt, innovative neue Produkte zu entwickeln und bei Elektrofahrzeugen den Anschluss an die internationale Konkurrenz verpasst. Auch bei einer effektiven Steuerbelastung von rund 29 Prozent für Unternehmen liegt in Deutschland rund zehn Prozentpunkte über dem Durchschnitt der EU-Länder und damit im weltweiten Vergleich in der Spitzengruppe.

Trotzdem war Deutschland lange Exportweltmeister, bevor China die Spitze übernahm.

Fürst: Deutschlands Exportgeschäft verzeichnet dieses Jahr mit Staaten wie USA oder China ein deutliches Minus und die geopolitischen Risiken durch aktuelle Kriege und den Konflikt um Taiwan nehmen zu. Die US-Wahl im November könnte diesen Trend noch verschärfen. Wenn Donald Trump wieder Präsident würde, und ab Januar 2025 die wirtschaftlichen Geschicke von Deutschlands größtem Handelspartner außerhalb der EU übernimmt. Die dann zu erwartende „America-First-Policy“ könnte den Export deutscher Waren erschweren und zu einem Handelskrieg mit China führen. Deutschland könnte außerdem gezwungen sein, sich beim wirtschaftlichen Clinch der zwei größten Volkswirtschaften der Welt für eine Seite zu entscheiden.

Sehen Sie weitere Risiken?

Fürst: Zudem verschärfen Protektionismus, der schleppende Ausbau von Freihandelsabkommen, Regulierungen und Berichtspflichten im Zuge des Lieferkettengesetzes die ohnehin schon angespannte Lage der deutschen Exportwirtschaft. Aber vor allem entwickeln wir nicht genug neue innovative Produkte, die Welt zweifelt zunehmend an „Made in Germany“. Während deutsche Konzerne zwar stark im traditionellen Maschinenbau oder in der chemischen Industrie sind, wurde die Digitalisierung völlig verschlafen. Mit SAP gibt es im Land genau einen Softwarekonzern mit Weltrang.

Der Standort Deutschland und sein exportorientiertes Geschäftsmodell stehen in der Tat gehörig unter Druck. Welche Schlüsselindustrien, Ressourcen und Infrastrukturen braucht das Land, um auch langfristig ökonomisch erfolgreich zu sein?

Fürst: Kurz zusammengefasst: Wir benötigen eine Fokussierung auf Schlüsselindustrien. Um für die Wirtschaft hierzulande neue Wachstumsmöglichkeiten zu erschließen, ist eine Verschiebung des wirtschaftlichen Portfolios hin zu dynamischen Zukunftsfeldern erforderlich. Ein Beispiel für ein international besonders dynamisches Feld ist der Bereich „Deep Tech“. Dazu gehören unter anderem KI, Nanotechnologie und Robotik. Auch die Bereiche Gesundheitswirtschaft – inklusive der Nutzung von KI und Biotechnologie, Feststoff-Batterietechnologie und neue Materialien wie Hochleistungslegierungen sind vielversprechend und mit den Gegebenheiten in Deutschland kompatibel. Letztendlich gibt es in fast allen Industrien Segmente, die eine gute Wachstumsdynamik haben. Durch Investitionen in solche Wachstumsfelder lassen sich auch die notwendigen Ausgaben für Bildung, Gesundheit, die Energiewende und soziale Sicherungssysteme finanzieren. Denn wir brauchen vier bis sechs Prozent Wirtschaftswachstum in Deutschland, um unseren Wohlstand zu sichern und die Transformation zu bewältigen.

Wie sollte der Wirtschafts- und Technologiestandort Deutschland künftig aussehen?

Fürst: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Kernherausforderungen für ein neues Wirtschaftswachstum definieren. Ein kleiner werdender Kuchen, der dann neu verteilt werden muss, führt zwangsläufig zu weiteren sozialen Spannungen uns Ausweichreaktionen. Wir müssen also dafür sorgen, dass der Kuchen wieder größer wird. 
Aus meiner Sicht gibt es sieben Voraussetzungen, um dieses Ziel zu erreichen:

  1. Energiesicherheit zu moderaten Preisen, die den benötigten Mehrbedarf durch E-Autos, Digitalisierung und KI-Entwicklungen abdecken
  2. Kosten der Energiewende ermitteln und auf Effektivität und Effizienz kritisch überprüfen und gegebenenfalls anpassen
  3. Identifikation von Wachstumsfeldern und Priorisierung
  4. Investition in Bildung und Kinderbetreuung
  5. Aufbau und Zentralisierung einer digitalen Verwaltung – gerne nach dem Sparkassenmodell. Das ermöglicht individuelle Entscheidungsvielfalt bei gleichzeitig notwendigen Skalierungseffekten
  6. Neue Schulden für Investitionen nur, wenn dadurch Wirtschaftswachstum angekurbelt wird
  7. Entwicklung einer Strategie im Umgang mit Staaten, die nicht unser Wertesystem teilen. Sind wir weiter für globale offene Märkte und Lieferketten oder schränken wir die Zusammenarbeit weiter ein?

Sehen Sie weitere Stellschrauben, an denen man drehen sollte?

Fürst: Wir brauchen zudem eine bessere und vor allem einfachere Regulierung des laufenden Geschäftsbetriebs, statt immer neue Bürokratien wie zum Beispiel beim Lieferkettengesetz oder der Arbeitszeiterfassung draufzusatteln. Zudem ist eine deutliche Verbesserung der Infrastruktur, digital wie im Verkehrsbereich notwendig. Auch bessere Abschreibungsbedingungen wirken, wie ein Turbo für private Investitionen und daran fehlt es Deutschland seit Jahren. Solche Maßnahmen kosten den Staat auf Dauer kaum Geld und haben angesichts des ausgelösten Investitionsschubs einen sehr hohen Selbstfinanzierungseffekt. Und gerade beim Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft haben wir viel Luft nach oben. Was uns zudem fehlt, ist eine institutionalisierte Risikofinanzierung, etwa durch einen Staatsfonds, um Leuchtturmprojekte zu realisieren. Bei der Entwicklung eines Covid-Impfstoffs hatten wir einen solchen Moment. Die deutsche Wirtschaft ist und bleibt sehr leistungsfähig, davon bin ich fest überzeugt. Aber wir brauchen mehr Unternehmertum, mehr Agilität und einen handlungsfähigen Staat, der die Marktkräfte aktiviert.

Der Interviewpartner

Thomas Fürst war 15 Jahre im Vorstand der Sparkasse Bremen und Aufsichtsrats-Mitglied verschiedener Unternehmen. Heute betreut er Start Ups und versucht, unter anderem als Aufsichtsrats-Vorsitzender von MyEnso, das Leben auf dem Dorf mit Hilfe der Digitalisierung wieder lebenswerter zu gestalten.