- Schultze & Braun untersucht Zeitraum seit der Insolvenzrechtsreform 2012 (ESUG) - Beitrag zur Qualität und Nachhaltigkeit von Unternehmenssanierungen
- Kernerkenntnis: Eigenverwaltungen und Schutzschirmverfahren schneiden bei der Nachhaltigkeit nicht per se besser ab als Regelinsolvenzverfahren
- Weniger Zweitinsolvenzen während Corona - „Rückfallrisiko“ nimmt nach fünf Jahren stark ab – Zweitabwicklungen fast 1,5-mal häufiger als Zweitsanierungen
Achern. Die Warenhauskette Strauss Innovation, der Automobilzulieferer JD Norman, die Druckerei Offizin Andersen Nexö, der Fußballverein Offenbacher Kickers, die Nachrichtenagentur dapd, der Fahrradhersteller MIFA, der Freizeitgerätehersteller Kettler – alle diese Unternehmen haben eines gemeinsam: Sie haben in den vergangenen zehn Jahren mindestens zwei Mal einen Insolvenzantrag gestellt. Oder anders formuliert: Die erste Sanierung war nicht so nachhaltig, dass die Unternehmen danach den erneuten Gang zum Insolvenzgericht vermeiden konnten. Die Folge ist eine Zweitinsolvenz[1]. „In unserer Untersuchung haben wir den Fokus auf diese besonderen Verfahren gelegt. Wir wollen herausfinden, wie erfolgreich und nachhaltig Sanierungen im Rahmen eines Insolvenzverfahrens, einer Eigenverwaltung oder eines Schutzschirmverfahrens sind und damit einen Beitrag zur Qualität und Nachhaltigkeit von Unternehmenssanierungen leisten – gerade, da es bis dato aus unserer Sicht keine vergleichbare Untersuchung zu diesem Thema gibt“, sagt Volker Böhm, Fachanwalt für Insolvenzrecht bei Schultze & Braun, der die Untersuchung fachlich geleitet hat.[2]
Regelinsolvenzen und ESUG-Verfahren stehen für erfolgreiche und nachhaltige Sanierungen
In diesem Jahr jährt sich das Inkrafttreten der Insolvenzrechtsreform vom 1. März 2012 (ESUG) zum zehnten Mal[3]. Daher bilden die sogenannten ESUG-Verfahren (Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren) in der Untersuchung einen Schwerpunkt. Die Kernerkenntnis ist, dass mit dem Blick auf die untersuchten Zweitinsolvenzen die ESUG-Verfahren bei der Nachhaltigkeit der Sanierung nicht per se besser abschneiden als Regelinsolvenzverfahren. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sowohl Regelinsolvenzverfahren als auch die ESUG-Verfahren für erfolgreiche und nachhaltige Sanierungen stehen.
Zwar ist der Anteil der Zweitinsolvenzen ohne direkten ESUG-Bezug in der Erstinsolvenz (70 Zweitinsolvenzen) im Vergleich zum Anteil mit ESUG-Bezug (44 Zweitinsolvenzen) rund 1,6-mal so hoch. Maßgeblich ist hierbei jedoch die weitaus größere Anzahl an Regelverfahren (70 Zweitinsolvenzen bei mindestens 54.405 vorläufige Verfahren/Regelinsolvenzverfahren entspricht einem Wert von rund 0,0013[4]) im Untersuchungszeitraum im Vergleich zu den Eigenverwaltungs-/ESUG-Verfahren (44 Zweitinsolvenzen bei mindestens 2.189 Eigenverwaltungen und Schutzschirmverfahren entspricht einem Wert von rund 0,02).
Nachhaltigkeits-Quote kann sich defivinitiv sehen lassen
„Die untersuchten Zweitinsolvenzen zeigen klar, dass ESUG-Verfahren und Regelinsolvenzen nachhaltig sind. Bei rund 2.200 Eigenverwaltungen und Schutzschirmverfahren über zehn Jahre sind 44 Zweitinsolvenzen eine Nachhaltigkeits-Quote, die sich definitiv sehen lassen kann. Das Gleiche gilt für die Regelinsolvenzverfahren“, sagt Böhm, der bereits in einer Vielzahl von Sanierungen als Insolvenzverwalter oder Sachwalter (Eigenverwaltung/Schutzschirmverfahren) tätig war. „Unsere Untersuchung macht deutlich, dass in den Instrumentenkoffer eines Sanierers die ESUG-Verfahren, aber genauso auch das Regelinsolvenzverfahren und die seit 2021 möglichen StaRUG-Restrukturierungen gehören. Die passende Sanierungsform sollte für jedes Unternehmen immer individuell geprüft werden – besonders mit dem Blick auf die Nachhaltigkeit der Sanierung,“ erläutert Böhm.
Corona bricht die „Zweitinsolvenzen-Welle“ – erneuter Anstieg in den nächsten Jahren möglich
Die Corona-Pandemie hat umfassende wirtschaftliche Auswirkungen. Die untersuchten Zweitinsolvenzen – der Untersuchungszeitraum wurde in „vor Corona“ (1.3.2012-1.3.2020) und „während Corona“ (1.3.2020-1.9.2021) unterteilt – zeigen allerdings, dass die Pandemie für sanierte Unternehmen nicht zu einem grundsätzlich volatileren Umfeld geführt hat. Die überwiegende Anzahl der Zweitinsolvenzen (101) gibt es „vor Corona“. „Während Corona“ gibt es hingegen nur 13 Zweitinsolvenzen. Auf Jahressicht zeigt sich zudem ein weiterer „Corona-Effekt“: 2017, 2018 und besonders 2019 (jeweils 1.3. bis 28./29.2.) hat sich eine „Zweitinsolvenzen-Welle“ aufgebaut. Diese „Zweitinsolvenzen-Welle“ ist im ersten „Corona-Jahr“ (1.3.2020 bis 28.2.2021) gebrochen worden. Gründe dafür können die im Kalenderjahr 2020 rückläufige Zahl der Insolvenzen von Kapital- und Personengesellschaften, die Corona-Finanzhilfen und die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht sein.
Die an sich positive Nachricht hat jedoch auch eine Kehrseite: Das Vermeiden von Unternehmensinsolvenzen – unterstützt durch die temporäre Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und die staatlichen Finanzhilfen – hat während der Corona-Pandemie bislang einen Anstieg der Zweitinsolvenzen verhindert. „Es ist zu befürchten, dass erforderliche Sanierungen vertagt wurden und eigentlich insolvente Unternehmen mit staatlichen Hilfen und die Tatsache, dass aufgrund der niedrigen Zinsen übermäßig viel Kapital im Markt ist, fortgeführt werden. Diese Zombifizierung der Wirtschaft kann in den nächsten Jahren durchaus zu einem erneuten Anstieg der Zweitinsolvenzen führen“, sagt Böhm.
Ursachen für Erstinsolvenz in der Regel nach fünf Jahren überwunden
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Untersuchung ist, dass der überwiegende Anteil der identifizierten Zweitinsolvenzen innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Erstinsolvenz erfolgt ist. „Unsere Untersuchung belegt, dass es sich relativ schnell zeigt, ob ein Unternehmen nachhaltig saniert und durch das Insolvenz-, Eigenverwaltungs- oder Schutzschirmverfahren die Krisenursachen beseitigt wurden. Sind nach einer Sanierung mehr als fünf Jahre vergangen, sind bei einem sanierten Unternehmen in der Regel die Ursachen überwunden, die zur Erstinsolvenz geführt haben“, sagt Böhm.
Zweite Chance beim ersten Mal nutzen
Ein Ziel des Gesetzgebers ist es – nicht nur, aber eben gerade auch mit dem ESUG – dass Unternehmen die Sanierung mit Hilfe eines Insolvenz-, Eigenverwaltungs- oder Schutzschirmverfahrens als zweite Chance sehen und ergreifen. „Es ist jedoch wichtig, diese zweite Chance beim ersten Mal zu nutzen“, sagt Böhm mit Blick auf eine wichtige Erkenntnis der Untersuchung, die die Bedeutung einer nachhaltigen Unternehmenssanierung unterstreicht: Unternehmen, die innerhalb von fünf Jahren nach der Erstinsolvenz erneut einen Insolvenzantrag stellen müssen, werden fast 1,5-mal häufiger abgewickelt als saniert (66 Zweitabwicklungen und 47 Zweitsanierungen, ein Verfahren nicht feststellbar).
„Die Fortführung des Unternehmens und der Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze stehen zurecht im Fokus einer Sanierung. Wichtig ist jedoch, in einer Sanierung immer auch an die Ursachen anzugehen, die zur Insolvenz geführt haben, sagt Böhm. „Lediglich die Passivseite der Bilanz zu reduzieren und dann operativ weiter so wie bisher vorzugehen, mag kurzfristig zu einem Erfolg führen. Um jedoch eine nachhaltig erfolgreiche Unternehmensanierung zu erreichen, darf man sich nicht davor scheuen, mitunter auch tiefgreifende Einschnitte vorzunehmen. Denn Fakt ist: Von einer nachhaltigen Unternehmensanierung profitieren am Ende alle“, fasst Böhm zusammen.
[1] Die Definition einer Zweitinsolvenz ist in der Datenbasis und dem Untersuchungsdesign auf www.nachhaltige-unternehmenssanierung.de dargestellt. Dort finden sich auch die Erkenntnisse der Untersuchung.
[2] Auf Basis von Daten der STP Business Information GmbH wurden im Zuge der Untersuchung für den Zeitraum 1. März 2012 und 1. September 2021 (jeweils rollierende Jahre vom 1.3. bis zum 28./29.2.) und der Definition einer Zweitinsolvenz 114 Zweitinsolvenzen identifiziert und untersucht. Als Beginn des Untersuchungszeitraum wurde das Inkrafttreten der ESUG-Insolvenzrechtsreform gewählt.
[3] Mit dem ESUG wurde die Eigenverwaltung, die sogenannte Sanierung in eigener Regie, für die Verfahrensbeteiligten plan- und berechenbarer. Zudem wurde das Schutzschirmverfahren eingeführt.
[4] Zweitinsolvenzen können bei Regelinsolvenzverfahren nur eingeschränkt identifiziert werden. Dieser Aspekt ist bei Erkenntnis und Einordnung berücksichtigt. Bei einer zehnfach höheren Anzahl an Zweitinsolvenzen in Regelinsolvenzverfahren (700 statt 70) würde der Wert bei rund 0,013 liegen. Ein Wert von 0,02 wird bei 1.088 Zweitinsolvenzen in Regelinsolvenzverfahren erreicht, also bei einer rund 15-fach höheren Anzahl an Zweitinsolvenzen in Regelinsolvenzverfahren. Weitere Informationen dazu sind im Untersuchungsdesign auf www.nachhaltige-unternehmenssanierung.de dargestellt.