EuGH urteilt: Zuständigkeit bei Antragstellung perpetuiert auch bei nachträglicher Verlegung des COMI

02. Mai 2022 Blog Insolvenzrecht

Der EuGH bestätigt auf Vorlage des BGH, dass auch nach der Reform der EuInsVO 2015 das Gericht, das zunächst über den Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO entscheidet, zuständig bleibt, auch wenn der COMI nach dem Antrag verlegt wird und auch wenn am neuen Ort ein weiterer Antrag gestellt wird. Das zweite angerufene Gericht muss warten, bis das erste über seine Zuständigkeit und die Eröffnung entschieden hat. 

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EuGH: Zuständigkeit bei Antragstellung perpetuiert auch bei Verlegung des COMI 

EuInsVO Art. 3 Abs. 1
EuGH, Urteil vom 24.03.2022 — C-723/20 (Galapagos)

I. Leitsatz der Verfasserin
Das Insolvenzgericht des Eröffnungsstaates bleibt nach Antragstellung im Sinne von Art. 3 EuInsVO zuständig, auch wenn der COMI vor Eröffnung in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird. Andere Gerichte sind bis zur negativen Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts gesperrt, über die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens zu entscheiden.

II. Sachverhalt
Der satzungsmäßige Sitz der Schuldnerin, die keine Arbeitnehmer beschäftigt, lag in Luxemburg. Einige Jahre nach ihrer Gründung verlegte sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Juni 2019 nach England. Dort beantragten die im Juni 2019 berufenen Direktoren am 22.8.2019 die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens. Am 23.8.2019 wurden diese auf Betreiben einer Gläubigergruppe ersetzt. Der Antrag in England blieb durch Eintritt anderer Gläubiger anhängig. Noch am selben Tag stellten die neuen Direktoren Insolvenzantrag bei dem AG Düsseldorf. Ein vorläufiger Insolvenzverwalter wurde noch an diesem Tag erstellt.

Auf die sofortige Beschwerde von Gläubigern wurde der Antrag mangels internationaler Zuständigkeit am 6.9.2019 zurückgewiesen. Noch am selben Tag stellten weitere Gläubiger einen Insolvenzantrag bei dem AG Düsseldorf. Das AG nahm seine internationale Zuständigkeit an, ordnete Sicherungsmaßnahmen an und bestellte einen vorläufigen Insolvenzverwalter.

Dagegen richtet sich die Tochtergesellschaft mit einer sofortigen Beschwerde und rügt, der Verwaltungssitz sei in England. Die Beschwerde wurde zurückgewiesen. Mit weiterer Rechtsbeschwerde begehrt die Tochtergesellschaft weiterhin die Abweisung.

Der BGH hatte dies dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH, Beschl. v. 17.12.2020 - IX ZB 72/19). 

III. Rechtliche Wertung
Die Vorlagefragen des BGH lauteten sinngemäß: 

1. Verhindert die Verlegung des Ortes der Hauptverwaltung in einen anderen Mitgliedstaat die Begründung des COMI, wenn im vorherigen Mitgliedstaat ein Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens noch unbeschieden anhängig ist?
2. Falls nicht, bleiben die Gerichte des ersten Mitgliedstaates trotzdem zuständig, wenn der COMI nach Antragstellung verlegt wurde? Sind sodann die Gerichte des neuen Zielmitgliedstaates, bei dem weitere Insolvenzanträge gestellt werden, unzuständig? 

Der BGH hatte bereits ausführlich zur Rechtsprechung des EuGH zur fortgesetzten Zuständigkeit bei Verlegung nach Antragstellung gem. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO (1346/2000) Bezug genommen (EuGH, C-1/04, Susanne Staubitz-Schreiber). Der Gerichtshof sah jedoch Klärungsbedarf, ob sich wegen der Konkretisierung der COMI-Bestimmung im Falle einer Verlegung durch die Reform der EuInsVO (2015/848) daraus etwas anderes ergäbe oder ob die Rechtsprechung des EuGH aus dem Jahr 2006 noch gilt.

Der EuGH betont, dass die Reform der Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit grenzüberschreitender Insolvenzverfahren diente. Deshalb bündele der Rechtsakt der Eröffnungsentscheidung die Bestimmung über Gerichtsstand, Anerkennung und anwendbares Recht. Zum Zwecke eines ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarktes seien mit der Reform weitere Schutzvorkehrungen gegen missbräuchliches Forum Shopping getroffen worden. 

Der EuGH stellt insgesamt fest, dass die Auslegungsregeln zur EuInsVO 1346/2000 auch für die EuInsVO 2015/848 einschlägig sind (bereits EuGH, Novo Banco, C-253/19). Demnach sind die Gerichte des Mitgliedstaates, in dem der Schuldner seinen COMI hat, ausschließlich für die Eröffnung des einzigen Hauptinsolvenzverfahrens zuständig (EuGH, Rastelli, C-191/10; EuGH, Wiemer & Trachte, C-296/17; EuGH, Eurofood, C-341/04). Diese Voraussetzungen sorgfältig zu prüfen ist Aufgabe des mit dem Antrag befassten Gerichts, Art. 4 Abs. 1 EuInsVO.

Das Gericht, das zunächst mit dem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, bleibt zuständig, auch wenn der COMI nach Antragstellung und vor Eröffnung verlegt wird. Solange das erste Gericht nicht entschieden hat und seine Zuständigkeit verneint hat, ist es den Gerichten anderer Mitgliedstaaten verwehrt, sich für die Eröffnung eines Hauptverfahrens zuständig zu erklären.

Demzufolge musst hier das Gericht in Düsseldorf auf die Entscheidung des High Courts warten und diese berücksichtigen, bei dem der Antrag zunächst eingereicht war. Das erste Gericht, bei dem der Antrag eingegangen ist, bleibt zuständig. Ein nachfolgend mit der Eröffnung eines Hauptverfahrens befasstes Gericht muss auf dessen Entscheidung warten.
Die EuInsVO wäre allerdings nur dann anwendbar, wenn das Hauptinsolvenzverfahren bei dem englischen High Court gem. Art. 67 Abs. 3c des Austrittsabkommens des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union vor dem Ablauf des Übergangszeitraums (am 31.12.2020) eröffnet worden ist. Sollte dies nicht so sein, wäre ein Gericht in einem anderen Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich der COMI (nunmehr) befindet, nicht mehr gesperrt, sich zuständig zu erklären, ein solches Verfahren zu eröffnen. 

Die erste Vorlagefrage, die sich auf die Zuständigkeit des Gerichts in Düsseldorf, in dessen Bezirk die Hauptverwaltung nach Antragstellung vor dem High Court verlegt wurde, bezieht, wird vom EuGH daher nicht beantwortet.

IV. Praxishinweis
Der Inhalt des Urteils ist im Wesentlichen so erwartbar gewesen. Alles andere wäre eine Überraschung. 
Naturgemäß macht der EuGH – mangels Vorlagefrage und mangels EU-Recht – keine Ausführungen dazu, ob die Sperrwirkung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO analog auch über § 343 InsO das Gericht in Düsseldorf ausbremsen würde, sollte keine Eröffnungsentscheidung bis zum 31.12.2020 erfolgt sein. Dass grundsätzlich Eröffnungsentscheidungen englischer Insolvenzgerichte nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gem. § 343 InsO in Deutschland anerkennungsfähig sind, dürfte außer Zweifel stehen. Ob und wie sich die Anerkennung der Eröffnungsentscheidung nach § 343 InsO allerdings den früheren unter EuInsVO-Regime eingereichten Antrag und dessen Zuständigkeitsbestimmung dogmatisch zu eigen machen kann und ob die EuGH-Rechtsprechung zur Perpetuierung der Zuständigkeit über diese Klippe hinweg in den Rechtsbereich der Vorschriften zum Internationalen Insolvenzrecht der §§ 335 InsO ausstrahlen kann, sind ungelöste, aber spannende Rechtsfragen, zu denen sich der BGH demnächst verhalten dürfte. 

Rechtsanwältin Dr. Annerose Tashiro, Registered Foreign Lawyer (SRA)