Arbeitgeberfehler bei Sozialauswahl: Möglichkeiten und Grenzen im Kündigungsschutzprozess

07. August 2023 Blog Insolvenzrecht

Wenn ein Arbeitgeber aus nachvollziehbaren Gründen irrtümlich annimmt, dass keine soziale Auswahl notwendig sei und dies sich später als unzutreffend erweist, kann er im Prozess relevante Umstände ergänzend vorbringen, ohne dass er in unzulässiger Weise Kündigungsgründe nachschiebt.

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Joachim Zobel

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

BAG: Nachschieben von Kündigungsgründen

BAG Urteil vom 8.12.2022 – 6 AZR 32/22 (LAG Hamm)

I. Leitsatz des Verfassers

Meint der Arbeitgeber bei Erklärung der Kündigung aus nachvollziehbaren Gründen, er müsse keine soziale Auswahl vornehmen, und erweist sich diese Annahme als unzutreffend, kann er auf eine entsprechende Rüge des Arbeitnehmers im Prozess die für die hypothetische soziale Auswahl (objektiv) erheblichen Umstände ergänzend vortragen, auch wenn er diese dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung nach § 102 BetrVG nicht mitgeteilt hat. Damit schiebt er nicht in unzulässiger Weise Kündigungsgründe nach.

II. Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung. Der Kläger, der einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist, war bei der Insolvenzschuldnerin seit 1992 beschäftigt. Mit Beschluss vom 1.3.2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin ein Insolvenzverfahren eröffnet.

Insgesamt wurden zwischen dem Betriebsrat und dem beklagten Insolvenzverwalter zwei Interessenausgleiche abgeschlossen, wobei der zweite Interessenausgleich die Stilllegung des Betriebs zum 31.5.2021 vorsah. Weiter kamen die Betriebsparteien in dem zweiten Interessenausgleich überein, dass aufgrund der Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse eine Sozialauswahl entbehrlich sei. Bestandteil dieses Interessenausgleichs waren drei Namenslisten. Die erste Liste enthielt Namen der Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse zum nächstzulässigen Termin beendet werden sollten. Die zweite Liste nannte Arbeitnehmer, die zum 31.5.2021 gekündigt werden sollten, da sie für die Ausproduktion benötigt wurden. Die dritte Liste umfasste Arbeitnehmer, denen bereits aufgrund eines vorherigen Interessenausgleichs gekündigt worden war und die entweder Kündigungsschutzklage erhoben hatten oder noch erheben konnten. Diesen sollte vorsorglich zum nächstzulässigen Termin erneut gekündigt werden. Der Kläger war auf der ersten Liste namentlich genannt.

Nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige erklärte der Beklagte die Kündigung aller Arbeitsverhältnisse einschließlich des Arbeitsverhältnisses des Klägers, gegen die der Kläger eine Kündigungsschutzklage erhob. Das ArbG gab der Klage statt. Das LAG wies die Berufungen beider Parteien zurück. Mit Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.

III. Rechtliche Wertung

Die Revision des Beklagten sei begründet. Das Arbeitsverhältnis des Klägers sei durch die Kündigung aufgelöst worden. Der Beklagte könne sich auf die Privilegierungen des § 125 Abs. 1 InsO stützen. Es liege eine Betriebsänderung iSv § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG vor. Die Betriebsparteien hätten einen formwirksamen Interessenausgleich mit drei Namenslisten abgeschlossen. Damit werde vermutet, dass die Kündigung durch dringend betriebliche Erfordernisse bedingt sei (§ 125 I 1 Nr. 1 InsO).

Die Betriebsparteien seien verpflichtet gewesen, die Entscheidung, welche Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des § 113 InsO zum nächstmöglichen Termin gekündigt werden, nach sozialen Auswahlkriterien zu treffen. Der Umstand, dass die Unternehmerentscheidung die Stilllegung des gesamten Betriebs zum Gegenstand gehabt habe, mache eine soziale Auswahl nicht entbehrlich.

Das Unterlassen der sozialen Auswahl sei jedoch für die Kündigung des Klägers nicht kausal gewesen. Der Beklagte habe aufgezeigt, dass mit der Entscheidung, das Arbeitsverhältnis des Klägers in der „ersten Welle“ zu kündigen, dennoch objektiv vertretbar gewesen sei. Der Beklagte könnte darlegen, dass auch unter Berücksichtigung anderer Arbeitnehmer das Ergebnis der Kündigung gleich geblieben wäre. Somit sei eine vertretbare Auswahl getroffen worden.

Dem Beklagten sei es nicht aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, eine hypothetische soziale Auswahl in den Rechtsstreit einzuführen, auch wenn die Betriebsratsanhörung hierzu keine Informationen enthalten habe. Der Arbeitgeber sei grds. berechtigt, seinen Vortrag auf entsprechende Rüge im Prozess zu ergänzen, wenn er bei einer durchgeführten Sozialauswahl bestimmte Arbeitnehmer übersehen oder für nicht vergleichbar gehalten und deshalb dem Betriebsrat die für die soziale Auswahl erheblichen Umstände nicht mitgeteilt habe. Dies stelle kein unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen iSv § 102 BetrVG dar.

IV. Praxishinweis

Im Rahmen der Betriebsrat-Anhörung hat der Arbeitgeber aufgrund des geltenden Grundsatzes der subjektiven Determination nur die Umstände mitzuteilen, die er für die Kündigung als ausschlaggebend ansieht. Es sind die tragenden Umstände mitzuteilen. Die Pflicht, dem Betriebsrat unaufgefordert die Auswahlkriterien bei einer betriebsbedingten Kündigung mitzuteilen, bezieht sich nur auf diejenigen Auswahlgründe, auf die die Kündigung gestützt wird.

Ein ergänzender Vortrag im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses auf konkreten Vortrag der Klageseite in Bezug auf Unwirksamkeitsgründe bleibt dem Arbeitgeber möglich. Insbesondere kann der Arbeitgeber zu den Sozialdaten einer hypothetischen Sozialauswahl ergänzend vortragen; dies jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber bei Stilllegung des gesamten Betriebs in nachvollziehbarer Weise davon ausgegangen ist, dass eine Sozialwahl entbehrlich sei.

Dem Arbeitgeber ist allerdings die Veränderung des Kündigungssachverhalts oder die erstmalige Angabe des kündigungsrechtlich erheblichen und dem Arbeitgeber bereits im Zeitpunkt der Betriebsrat-Anhörung bekannten Sachverhalts verwehrt.

Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht